Atlantische Bastardschildkröten (Lepidochelys kempii) sind die kleinsten und gleichzeitig seltensten Meeresschildkröten. Im Englischen sind sie unter dem Namen Kemp‘s Ridley Turtle bekannt. Dieser Name geht auf den Fischer Richard M. Kemp aus Key West zurück, der 1906 erkannte, dass es sich um eine eigenständige Art handelt. Atlantische Bastardschildkröten leben hauptsächlich im Golf von Mexiko. Jedoch halten sich Jungtiere auch im Atlantik bis hinauf nach Nova Scotia (Kanada) auf. Gelegentlich findet man sie sogar im östlichen Nordatlantik.
Im Golf von Mexiko nisteten früher Zehntausende Weibchen, die am Hauptnistplatz der Art in Rancho Nuevo (Mexiko). Doch Mitte des 20. Jahrhunderts brach der Bestand zusammen. In den 1980er-Jahren dann erreichte er seinen Tiefstand mit nur noch einigen Hundert nistenden Weibchen. Dank intensiver Schutzmaßnahmen an den Niststränden und verbessertem Fischereimanagement konnte das Aussterben der Atlantischen Bastardschildkröte gerade noch verhindert werden.
Dennoch sind Atlantische Bastardschildkröten auch heute noch vom Aussterben bedroht. Beifangverluste durch die kommerzielle und Freizeitfischerei sind hierfür die Hauptursachen. Alle Arten der Familie Cheloniidae stehen seit 1981 auf Anhang I des Washingtoner Artenschutzübereinkommens (CITES). Damit ist der internationale Handel mit lebenden Tieren oder Produkten verboten. Die Atlantische Bastardschildkröte steht zudem in ihrem gesamten Verbreitungsgebiet im Golf von Mexiko und in den atlantischen Küstengewässern der USA unter Schutz. Es gibt keinen legalen Handel.
Systematik
Atlantische Bastardschildkröten sind eine von sechs Arten der Familie Cheloniidae und eine von zwei Arten der Gattung Lepidochelys. Die zweite Art ist die Oliv-Bastardschildkröte, im Englischen Olive Ridley Turtle genannt.
Der deutsche Name Bastardschildkröte ist darauf zurückzuführen, dass man sie früher für Hybride der Grünen Meeresschildkröte und der Unechten Karettschildkröte hielt.
Lebensraum und Verbreitung
Überwiegend im Golf von Mexiko und entlang der US-Ostküste bis hinauf nach Nova Scotia. Gelegentlich vagabundieren einzelne Tiere auch an die Küsten von Frankreich, Irland, Portugal, Madeira, den Azoren und Großbritannien. Dort nisten sie allerdings nicht.
Wie hoch ist der Bestand?
Auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion IUCN ist die Atlantische Bastardschildkröte als vom Aussterben bedroht, mit unbekannter Bestandsentwicklung gelistet. 1985 erreichte die Zahl der Nester an ihrem Hauptnistplatz in Rancho Nuevo, Mexiko, ein Rekordtief von 702. Diese stammten von weniger als 250 nistenden Weibchen.
Rund fünfundneunzig Prozent aller weltweiten Nester von Atlantischen Bastardschildkröten befinden sich im Bundesstaat Tamaulipas, Mexiko. Denn hier sind die drei wichtigsten Niststrände Rancho Nuevo, Tepehuajes und Barra del Tordo. Weitere Nistaktivitäten gibt es allerdings auch in Veracruz, Mexiko, und in Texas. Hier jedoch in wesentlich geringerem Umfang. Nur gelegentlich nisten diese Meeresschildkröten noch an Stränden in North Carolina, South Carolina, Georgia, Florida und Alabama.
Laut IUCN lag der Gesamtbestand im Januar 2019 bei 22.341 erwachsenen Tieren. Ihre Lebenserwartung ist unbekannt. Experten schätzen, dass sie über 30 Jahre alt werden können. Mit etwa 13 Jahren erreichen sie ihre Geschlechtsreife.
Artensteckbrief Atlantische Bastardschildkröte
Atlantische Bastardschildkröten sind leicht an ihrem dreieckig geformten Kopf und ihrem leicht hakenförmigen gebogenen Schnabel zu erkennen. Schlüpflinge sind auf beiden Seiten dunkel gefärbt. Erwachsene Tiere haben im Allgemeinen eine graugrüne Farbe auf der Oberseite und einen hellen, gelblichen Unterpanzer. Die Oberschale (Carapax) ist dabei oft so breit wie lang. Die vorderen Brustflossen haben jeweils eine Kralle, während die hinteren eine oder zwei haben können.
Foto: USFWS
Ausgewachsene Exemplare sind etwa 60 bis 70 cm groß und zwischen 32 und 45 kg schwer.
Atlantische Bastardschildkröten sind Allesfresser. Ihr Nahrungsspektrum umfasst sowohl Algen als auch Krebstiere, Tintenfische und andere Mollusken.
Ein Nest kann aus bis zu 100 Eiern bestehen. Nach 50 bis 60 Tagen beginnen die Schlüpflinge sich auszugraben. Weibchen legen durchschnittlich 2 bis 3 Gelege pro Saison. Dabei kehren sie alle 1 bis 3 Jahre von April bis Juli zum Nisten an den Strand zurück, an dem sie einst das Licht der Welt erblickten.
Wie bei allen Arten von Meeresschildkröten sind geschlüpfte und heranwachsende Jungtiere als Beute beliebt bei allem, was Zähne und Fangarme hat, sowie bei großen Seevögeln. Erwachsene werden von großen Haien erbeutet.
Verhalten und Fortpflanzung
Atlantische Bastardschildkröten zeigen, ähnlich wie ihre Verwandten, die Oliv-Bastardschildkröten, das wohl außergewöhnlichste Nistverhalten unter Meeresschildkröten. Während andere Arten einzeln und unkoordiniert an die Strände kommen, versammeln sich Bastardschildkröten zu mehreren Tausend, um dann gemeinsam zu nisten. Im Gegensatz zu allen anderen Meeresschildkröten kommen Atlantische Bastardschildkröten zum Graben ihrer Nester tagsüber an Land.
Arribada – die große Ankunft
Während des spektakulären Naturschauspiels einer „Arribada“ – spanisch für Ankunft – treffen sich Atlantische Bastardschildkröten in Gruppen vor der Küste ihres Niststrandes. Dann, ganz plötzlich, krabbeln sie alle gemeinsam aus dem Meer an Land. Es ist wie eine Schildkröten-Invasion.
Arribada – viele Fragen
Niemand weiß, was eine Arribada auslöst, auch wenn es dazu viele Theorien gibt: ablandige Winde, bestimmte Mondzyklen oder die Abgabe von Pheromonen durch die Weibchen. Unbekannt ist auch, warum Arribadas überhaupt stattfinden. Ihr evolutionsbiologischer Vorteil ist unklar. Vielleicht bietet dieses Schwarmverhalten sowohl erwachsenen Tieren als auch Schlüpflingen besseren Schutz vor Fressfeinden.
Rätselhaft ist auch, wie sie es schaffen, sich mehr oder weniger pünktlich an „ihrem“ Niststrand zu treffen.
Wanderungen – Jungtiere
Einige der Jungtiere, die es nach dem Schlüpfen bis ins Meer schaffen, verbleiben in den Strömungen im Golf von Mexiko. Andere wiederum lassen sich mit dem Golfstrom aus dem Golf um Florida herum in den Atlantischen Ozean treiben.
Junge Atlantische Bastardschildkröten assoziieren sich mit schwimmenden Sargassum-Algen. Sie nutzen die Algen als Zufluchtsort, zum Ausruhen und finden hier Nahrung in Form von kleinen Tieren und Pflanzen. Nach etwa 1 bis 2 Jahren oder bis sie eine Länge von etwa 20 cm erreicht haben, verlassen die jungen Schildkröten dann den Schutz der Sargassum-Algen.
Im Anschluss an diese ozeanische Phase wandern sie in flache, küstennahe Bereiche. Hier sind dann Krabben ihre bevorzugte Nahrung. Sie ernähren sich aber auch von zurückgeworfenem Beifang.
Wanderungen – Erwachsene
Abhängig von ihrer Brutstrategie halten sich männliche Atlantische Bastardschildkröten in vielen verschiedenen Gebieten im Golf von Mexiko auf. Einige Männchen wandern jährlich zwischen Futter- und Brutgebieten hin und her. Andere wiederum wandern überhaupt nicht und paaren sich mit Weibchen, die sie an ihren Futterplätzen oder in der Nähe von Niststränden antreffen.
Weibchen wandern von den Nistgebieten in die von der Halbinsel Yucatán über Südflorida bis zum nördlich-zentralen Golf von Mexiko reichenden Futtergebiete.
Gefahren
Wie alle Meeresschildkrötenarten sehen sich Atlantische Bastardschildkröten heute mit einer Mischung unterschiedlichster Gefahren konfrontiert, denen sie nur schwer standhalten können.
Plünderung der Nester und Wilderei
Hauptursache für den weltweiten Rückgang der Atlantischen Bastardschildkröten war das Sammeln von Eiern und das Massentöten erwachsener Weibchen an den Niststränden. Überdies konzentriert das Arribada-Nistverhalten Weibchen und Nester zur gleichen Zeit und am gleichen Ort. Daher ist es einfach, Nester zu plündern und Tiere zu töten.
Mittlerweile verhindern strenge Schutzbestimmungen in den USA und Mexiko Verluste durch Eierdiebe und Wilderer.
Beifang in der Fischerei
Hauptbedrohung für die Lungenatmer ist heute das Verheddern und Ertrinken in Fischereigerät (Beifang). Außerdem können sie Angelhaken und -schnüre sowie Netzteile verschlucken. Zu den wichtigsten Fanggeräten, die Beifang von Atlantischen Bastardschildkröten verursachen, gehören Schleppnetze, Langleinen, Kiemennetze, Haken und Leinen, Reusen/Fallen und Grundschleppnetze.
Verlust, Zerstörung und Störung der Niststrände
Durch Baumaßnahmen an Stränden und deren intensive touristische Nutzung sowie steigende Meeresspiegel sind viele Niststrände für die Art verloren gegangen. Künstliche Beleuchtung an und in der Nähe von Niststränden bereitet Jungtieren nach dem Schlupf große Probleme, das Meer zu finden. Denn sie orientieren sich dabei nach dem hellsten für sie sichtbaren Horizont.
Für Atlantische Bastardschildkröten ist besonders das Befahren von Stränden gefährlich. Fahrzeuge verletzen und töten nistende Schildkröten und Jungtiere, zerstören die Nester. An Land befindliche Meeresschildkröten sind langsam und können einem herannahenden Fahrzeug nicht ausweichen. Hinzu kommt, dass diese kleine Art von den Fahrern oft nicht rechtzeitig gesehen wird.
Das Befahren von Stränden verschlechtert zudem den Nistplatz. Denn es verdichtet den Sand. Außerdem hinterlassen Fahrzeuge Spurrillen und tiefe Furchen. Das sind schwer zu bewältigende Hindernisse für erwachsene Tiere und geschlüpfte Jungtiere. Folglich schaffen es einige von ihnen mitunter nicht aus einer Furche heraus, vertrocknen oder werden von Fressfeinden erbeutet.
Verluste durch Landraubtiere
Eier und geschlüpfte Jungtiere von Atlantischen Bastardschildkröten gehören ebenfalls zur Beute einheimischer und nicht einheimischer Raubtiere (insbesondere Wildschweine, Kojoten, Waschbären, Vögel und Krebse). Daher stellt die Reduzierung der Raubtierdichte ein wirksames Mittel dar, um diese Bedrohung zu verringern und den Bruterfolg zu verbessern.
Schiffs- und Bootskollisionen
Fast alle Wasserfahrzeuge können Oliv-Bastardschildkröten treffen, wenn sie an oder nahe der Oberfläche schwimmen. Diese Kollisionen verletzen oder töten die Tiere. Schiffskollisionen sind insbesondere für zu ihren Niststränden schwimmende Weibchen eine große Gefahr, wenn sie sich stark befahrenen Küsten nähern.
Meeresverschmutzung/Meeresmüll
Die zunehmende Verschmutzung küstennaher Lebensräume bedroht alle Meeresschildkröten und beeinträchtigt ihre Lebensräume.
Zusätzlich laufen sie Gefahr, herumtreibenden Müll aufzunehmen. Im Magen von Atlantischen Bastardschildkröten findet man folglich z. B. Angelschnüre, Luftballons, Plastiktüten, schwimmende Teer- oder Ölklumpen und anderen von Menschen weggeworfenen Müll. Zudem ist das Verheddern in herumtreibenden Müllansammlungen für die Tiere gefährlich.
Die vom Untergang der Ölplattform Deepwater Horizon ausgelöste Ölpest war die größte Offshore-Ölpest in der Geschichte der USA. Sie traf die Atlantischen Bastardschildkröten im gesamten Golf von Mexiko hart, tötete Tausende nistender Weibchen und Jungtiere, zerstörte unzählige Nester.
Klimakrise
Meeresschildkröten stehen unter starkem Klimastress. Unter anderem, weil höhere Temperaturen die Strandmorphologie verändern und zu höheren Sandtemperaturen führen. Das kann zum Absterben der Eier führen oder dazu, dass nur noch Weibchen zur Welt kommen. Denn die Geschlechterzuordnung steuert sich bei Reptilien über die Nisttemperatur.
Wie Sie im Urlaub Meeresschildkröten helfen können ↗
Empfehlungen der Fischereiabteilung der Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten (NOAA Fisheries).
Autor: Ulrich Karlowski
Titelfoto: © NOAA Fisheries
Artenliste
Weitere Informationen
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- Beifänge in der Langleinenfischerei
- Nomaden der Ozeane – Buch von Frauke Bagusche
- Wenn Meeresschildkröten beißen