Der 18. August 2024 markiert einen für den Erhalt der Artenvielfalt und für besseren Klimaschutz entscheidenden Wendepunkt in Europa: Das EU-Renaturierungsgesetz zur Wiederherstellung natürlicher Lebensräume (Nature Restoration Law/NRL) tritt nach seiner dramatischen Verabschiedung im EU-Umweltministerrat in Kraft. Über zwei Jahre haben wir gemeinsam mit mehr als 200 anderen europäischen Organisationen, unterstützt von einem breiten Bündnis bürgerschaftlichen Engagements mit mehr als 1 Million Bürgerinnen und Bürgern, Wissenschaftlern und Unternehmen, für das NRL gekämpft. Der Weg war lang. Er war hart und er war verlustreich. Und am Ende hing alles an der Haltung einer mutigen Ministerin aus Österreich, die für die Natur und gegen ihre eigene Regierung stimmte.
„Das NRL ist von entscheidender Bedeutung für den Wiederaufbau degradierter Ökosysteme wie Seegraswiesen, Korallenriffe oder Muschelbänke und deren Schutz. Es ist ein historischer Schritt für den Klima- und Artenschutz in Europa“, verdeutlicht Ulrich Karlowski, Biologe der Deutschen Stiftung Meeresschutz.
Inhaltsverzeichnis
- Kaum noch intakte natürliche Lebensräume in Europa
- Verpflichtung zur Wiederherstellung degradierter Ökosysteme
- Renaturierungsgesetz: langer Weg durch die Institutionen
- Entwässerte Moore: die großen Verlierer im Renaturierungsgesetz
- EU-Umfrage über den Zustand natürlicher Ökosysteme und die biologische Vielfalt
- Die EU-Biodiversitätsstrategie
Kaum noch intakte natürliche Lebensräume in Europa
Etwa 80 % der natürlichen Lebensräume in Europa sind in einem schlechten Zustand oder bereits zerstört. Die wenigen Reste stehen unter starkem Nutzungsdruck. Doch ohne intakte Lebensräume lassen sich weder das in Europa intensiv voranschreitende Artensterben noch die Klimakatastrophe aufhalten.
Das Renaturierungsgesetz öffnet die Tür, dass Europa das auf der UN-Biodiversitätskonferenz (Convention on Biological Diversity/CBD) vereinbarte 30-×-30-Ziel zum Erhalt der natürlichen Artenvielfalt erreichen kann. Auf der UN-Konferenz vereinbarten die Vertragsstaaten im Dezember 2022 in Montreal, mindestens 30 Prozent der weltweiten Land- und Meeresflächen bis 2030 unter Schutz zu stellen.
Verpflichtung zur Wiederherstellung degradierter Ökosysteme
Das Nature Restoration Law enthält verbindliche Ziele für die Wiederherstellung von Meereslebensräumen. Außerdem einen neuen Mechanismus und einen Zeitplan, um zerstörerische Fischereitechniken wie die Grundschleppnetzfischerei einzuschränken. „Ganz entscheidend ist auch, dass das NRL jetzt die Wiederherstellung küstennaher vegetationsreicher Ökosysteme wie Seegraswiesen und Riffen ermöglicht“, betont Karlowski. Durch das neue EU-Renaturierungsgesetz gibt es jetzt die erste verbindliche EU-Rechtsvorschrift zur Wiederherstellung fast aller geschädigten Ökosysteme bis 2050.
Konkret verpflichtet das Gesetz die EU-Staaten, bis 2030 bis zu 30 % ihrer geschädigten Meereslebensräume wiederherzustellen. Hierzu sollen sie nationale Wiederherstellungspläne verabschieden. Es enthält auch neue Bestimmungen, die sicherstellen, dass die Länder bis spätestens Mitte 2028 gemeinsame Fischereiregeln verabschieden. Und zwar dann, wenn die zerstörerischen Fischereipraktiken eines Landes die Wiederherstellungsbemühungen eines anderen beeinträchtigen.
Um seine Wirkung zu entfalten, müssen die Mitgliedstaaten die Vorgaben des NRL jetzt möglichst schnell in ihre nationale Gesetzgebung übernehmen.
Dänemark prescht voran
Mit gutem Beispiel voran gehen bereits unsere dänischen Nachbarn. Sie kündigten kurz vor Inkrafttreten des EU-Renaturierungsgesetzes an, 15 Prozent ihrer landwirtschaftlichen Nutzfläche aus der Nutzung herauszunehmen und diese zu renaturieren (Wälder, Moore, Salzwiesen). Grund für den zur allgemeinen Verwunderung gesellschaftlich akzeptierten Wandel ist der beklagenswerte Zustand der dänischen Ostsee-Fjorde. Sie sind biologisch weitgehend tot und sollen, wie die Flensburger Förde, wieder zu neuem Leben erweckt werden. Damit das gelingt, benötigt man zum einen eine Senkung der Zufuhr von Nährstoffen aus der Landwirtschaft (Phosphor und Stickstoff), zum anderen Verbotszonen für die klimaschädliche und alles Leben zerstörende Grundschleppnetzfischerei.
Renaturierungsgesetz: langer Weg durch die Institutionen
Der ursprüngliche ambitionierte Entwurf der EU-Kommission sah vor, dass die Mitgliedsstaaten unverzüglich und verpflichtend Maßnahmen zur Wiederherstellung von Land-, Küsten-, Süßwasser- und Meeresökosystemen, die sich in einem schlechten Zustand befinden, ergreifen. Und zwar bis 2030 auf mindestens 20 Prozent, bis 2040 auf 60 Prozent, bis 2050 auf 90 Prozent der betroffenen Flächen. Auf Flächen, wo diese Ökosysteme bereits verschwunden sind, sollten die Mitgliedsstaaten verpflichtend Wiederherstellungsmaßnahmen ergreifen.
Totalblockade der Europäischen Volkspartei (EVP) scheitert knapp
Mehr als 1.116.000 Bürgerinnen und Bürger, über 200 Umweltorganisationen aus der EU, darunter auch die Deutsche Stiftung Meeresschutz, 6.000 Wissenschaftler, die Weltnaturschutzorganisation IUCN, und viele andere mehr hatten sich für das Renaturierungsgesetz eingesetzt und um Zustimmung im EU-Parlament geworben.
Entschiedener Widerstand gegen das NRL kam von der konservativen Europäischen Volkspartei (EVP) unter Führung des Europaabgeordneten Manfred Weber. Der CSU-Politiker bekämpfte vehement einen der wichtigsten Inhalte des European Green Deal von EU-Kommissionspräsidenten Ursula von der Leyen (CDU).
Angeführt von Weber wollte die EVP das EU-Renaturierungsgesetz im Europaparlament stoppen, ohne darüber zu verhandeln. Dazu führte sie eine aggressive Desinformationskampagne durch, die in Teilen leider Erfolg hatte.
Schmerzhafte Zugeständnisse
Bei der Verabschiedung im Europaparlament am 12. Juli 2023 mussten die Abgeordneten Kompromisse und Zugeständnisse machen, damit das Renaturierungsgesetz überhaupt die parlamentarische Hürde überspringt. Schließlich stimmte das Parlament damals denkbar knapp mit 324 gegen 312 Stimmen bei zwölf Enthaltungen gegen die Blockade der EVP.
Anschließend folgten intensive und harte Trilog-Verhandlungen zwischen Parlament, Kommission und Europäischem Rat. Sie endeten am 9. November 2023 mit einer gemeinsamen Position. Problematisch dabei war, dass das Europaparlament deutlich schwächere Renaturierungsregeln durchsetzen wollte als der Rat und die Kommission.
Am 29. November 2023 stimmte der Umweltausschuss des EU-Parlaments (ENVI Committee) mit 53 Ja-Stimmen bei 28 Gegenstimmen und 4 Enthaltungen schließlich für das Trilog-Ergebnis. Am 27. Februar 2024 stimmte dann auch das Europaparlament für das Ergebnis des Trilogs. Erneut nur mit einer knappen Mehrheit. Erneut hatte die EVP versucht, den parlamentarischen Abstimmungsprozess zu torpedieren.
Dramatische Abstimmung im EU-Umweltministerrat
Doch im März 2024 musste die belgische Ratspräsidentschaft das NRL von der Tagesordnung zur entscheidenden Abstimmung im EU-Umweltministerrat nehmen. Denn Ungarn hatte unerwartet ankündigt, jetzt doch gegen das NRL zu stimmen. Damit hatte das Renaturierungsgesetz zum damaligen Zeitpunkt keine qualifizierte Mehrheit mehr.1
Der Durchbruch gelang überraschend am 17. Juni 2024. Im zweiten Anlauf verabschiedete der EU-Umweltministerrat den zentralen Baustein des European Green Deal, das neue europäische Renaturierungsgesetz (Nature Restoration Law/NRL).
Ausschlaggebend war das Abstimmungsverhalten der österreichischen Umweltministerin Leonore Gewessler. Sie schwenkte in letzter Minute für ihr Land von Enthaltung zu Zustimmung um. Damit erreichte das Nature Restoration Law die notwendige qualifizierte Mehrheit von 20 EU-Ländern, die 66,07 % der Bevölkerung der EU repräsentieren. Die grüne Ministerin Gewessler handelte gegen den Willen ihres Koalitionspartners von der ÖVP und löste mit ihrem Votum prompt eine Regierungskrise aus, berichtete die Süddeutsche Zeitung.
Entwässerte Moore: die großen Verlierer im Renaturierungsgesetz
Aus den ursprünglich harten und verpflichtenden Maßnahmen im EU-Renaturierungsgesetz wurden im Zuge der Verhandlungen weiche Absichtserklärungen mit Ausnahmeregelungen für die Landwirtschaft. Auch Regelungen zur Wiederherstellung landwirtschaftlicher Flächen entfielen. Hierzu gehören entwässerte Moore. Das ist besonders schmerzlich. Denn sie binden kein CO₂ mehr, sondern setzen es frei.
Etwa 7 Prozent der Treibhausgasemissionen in Deutschland stammen aus entwässerten Mooren (ohne Berechnung der durch landwirtschaftliche Nutzung entwässerter Moorflächen entstehenden Emissionen).
EU-Umfrage über den Zustand natürlicher Ökosysteme und die biologische Vielfalt
Die unabhängige Forschungsagentur Savanta führte vom 1. bis 9. Mai 2024 eine Meinungsumfrage über die biologische Vielfalt in Europa und das Renaturierungsgesetz durch. Savanta befragte 6.190 Personen in Polen, Finnland, Schweden, Italien, den Niederlanden und Ungarn. Alles Länder, die das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur nicht unterstützen.
Die Ergebnisse sind eindeutig: Ein Großteil der Bevölkerung ist für das NRL, obwohl die jeweiligen Regierungen es ablehnen.
Die EU-Biodiversitätsstrategie
Die EU-Biodiversitätsstrategie mit dem Nature Restoration Law ist ein umfassender, ehrgeiziger und langfristiger Plan zum Schutz der Natur und zur Wiederherstellung geschädigter Ökosysteme. Sie ist der Kern des European Green Deal von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Die Biodiversitätsstrategie zielt darauf ab, die Natur in Europa zu revitalisieren. Dazu sieht sie eine Reihe konkreter Maßnahmen und Verpflichtungen vor. Denn um Ökosysteme wiederherzustellen, braucht es rechtliche Rahmenbedingungen.
- Im EU-Ministerrat ist eine sogenannte qualifizierte Mehrheit erforderlich. Dies bedeutet eine Zustimmung von 55 % der Mitgliedstaaten (15 von 27), die zusammen mindestens 65 % der EU-Bevölkerung repräsentieren müssen. ↩︎
Update: überarbeiteter und mit neuem Datum veröffentlichter Beitrag