Im Jahr 2023 förderten wir Pro Wildlife e.V. für die Erstellung des Hintergrundberichts „Small cetaceans, even bigger problems“ (Kleine Meeressäuger, noch größere Probleme). Die gemeinsam mit WDC erstellte umfassende Studie über die Jagd auf Delfine und andere Kleinwale weltweit wurde im Februar 2024 veröffentlicht und erzeugte viel Aufmerksamkeit. Denn die recherchierten Zahlen der unter dem offiziellen Artenschutz-Radar stattfindenden Nutzung kleinerer Meeressäuger überraschten Fachwelt und Medien gleichermaßen. Jedes Jahr sterben ca. 100.000 Delfine und andere Kleinwale durch direkte Jagd: darunter auch solche, die auf der Liste der gefährdeten Arten der Weltnaturschutzunion IUCN stehen! Man nutzt ihr Fleisch als „Bushmeat aus dem Meer“ zur Nahrungsversorgung oder als Köder in der Hai-Fischerei. Hinzu kommen zahlenmäßig nicht erfassbare Beifangverluste in der Industriefischerei, wie beim Einsatz von Supertrawlern oder pelagischen Stellnetzen. Letztere sind für die hohen Beifangverluste unter unseren heimischen Schweinswalen in Nord- und Ostsee verantwortlich.
Inhaltsverzeichnis
Bibliothek des Grauens zur Jagd auf Delfine und andere Kleinwale
Für die Studie werteten die Artenschutzexperten mehr als 250 wissenschaftliche Studien, Augenzeugen- und Zeitungsberichte aus. Die berechnete Gesamtzahl der im Kontext menschlicher Nahrungsversorgung getöteten Delfine und anderen Kleinwale ist seit einem früheren Bericht von 2018 noch weiter gestiegen.
„Die Vielzahl der Länder, in denen man derzeit erbarmungslos Jagd auf die kleinen Meeressäuger macht, ist erschütternd“, so Ulrich Karlowski, Biologe von der Deutschen Stiftung Meeresschutz.
Artenschutz-Ungleichgewicht – Größe entscheidet über Leben und Tod
Für Großwale wie Buckel-, Finn- oder Blauwale gelten Jagdverbote und strikte internationale Handelsverbote (an die sich die Walfangländer Island, Japan und Norwegen nicht halten). Kleinwale dagegen sind nicht durch das kommerzielle Moratorium der Internationalen Walfangkommission (IWC) geschützt.
Der Bericht „Small cetaceans, even bigger problems“ entlarvt Länder wie Dänemark, Russland, Japan und Peru, die verhindern, dass sich an dieser Situation etwas ändert. Deshalb sind Delfine und andere Kleinwale in vielen Ländern nahezu vogelfrei. Auf internationaler Ebene gibt es nur einen Flickenteppich aus Artenschutzbestimmungen.
In Europa denkt man beim Thema Jagd auf Delfine denken viele vermutlich an die Delfinmassaker auf den nordeuropäischen Färöer-Inseln oder an die Bilder aus der berüchtigten Bucht des japanischen Fischerstädtchens Taiji. Doch auch andernorts sind die Meeressäuger durch direkte Jagd gefährdet. Und das in erheblichem und zunehmenden Umfang!
Jagd auf Delfine und andere Kleinwale: globale Top 10
- Peru: bis zu 15.000 Tiere (v. a. Köder für die Haifischerei)
- Ghana: annähernd 10.000 Tiere, zunehmend (kommerzialisierter Beifang, nun v. a. als Hai-Köder)
- Nigeria: fast 10.000 Tiere, zunehmend (kommerzialisierter Beifang)
- Brasilien: 5–10.000 Tiere, zunehmend (v. a. als Köder in der Fischerei)
- Venezuela: mehrere Tausend Tiere, zunehmend (als Fleisch, Köder in der Fischerei und für religiöse Rituale)
- Grönland: > 5.000 Tiere, zunehmend (deutlich über nachhaltigem Level stattfindende Subsistenzjagd)
- Taiwan: mehrere Tausend Tiere, zunehmend (v. a. als Köder für die Fischerei, auch auf hoher See)
- Indonesien: mehrere Tausend Tiere, zunehmend (für Fleischmarkt und als Fischerei-Köder)
- Südkorea: mehrere Tausend Tiere, vermutlich zunehmend (für Fleischmarkt und Köder in der Fischerei)
- Indien: mehrere Tausend Tiere (für Fleischmarkt und als Fischerei-Köder)
Jedoch jagt man Delfine und andere Kleinwale noch in vielen anderen Ländern. Darunter Kanada oder Malaysia. Lediglich in Japan sank in den vergangenen 20 Jahren die Zahl getöteter Delfine von mehr als 18.000 auf weniger als 1.900 Tiere.
Warum müssen so viele kleine Meeressäuger sterben?
Delfine und andere Kleinwale enden jedoch nicht nur als Nahrungsmittel oder als Haiköder. Der Bericht deckt weitere Nutzungsarten auf, wie:
- Delfinöl als Wundermittel gegen Corona-Infektionen (Orinoko-Becken in Südamerika) oder
- Delfinzähne als begehrter Brautschmuck auf den Salomonen
Allerdings ist nicht nur das Ausmaß der Jagd erschreckend, sondern auch ihre Grausamkeit. Die Fischer setzen Harpunen, Speere, Lanzen, Macheten, Gewehre, Messer oder Haken ein. Auch der Einsatz von Dynamit ist dokumentiert.
Vernichtungsfeldzug der Fischer
In vielen Ländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens verzeichnet man einen drastischen Anstieg der Jagd auf Delfine. Das Fleisch der Meeressäuger dient als Köder für die boomende Fischerei auf Hai, Thunfisch, Piracatinga (ein welsartiger Fisch im Amazonas). Damit ist eine doppelte Tier- und Artenschutz-Tragödie entstanden: Die begehrten Fischarten sind bereits überfischt. Um trotzdem noch Beute machen zu können, töten und zerschneiden die Fischer Delfine und nutzen das Fleisch an Langleinenhaken oder in Reusenfallen.
Viele Fischer sehen in Delfinen und anderen Kleinwalen ohnehin verhasste Konkurrenten um die letzten Fische – entsprechend brutal gehen sie auch bei der Jagd auf die kleinen Meeressäuger vor.
Faktenbasierte Überzeugungsarbeit
Der Bericht „Small cetaceans, even bigger problems“ dient als Grundlage für Überzeugungsarbeit bei politischen Entscheidungsträgern im Vorfeld der 69. IWC-Tagung im Herbst 2024. Die Tagung wird in Peru stattfinden, einem der Länder, in denen Fischer jedes Jahr viele Tausend Delfine in großer Zahl jagen.
Ziel ist es, den Weg für eine IWC-Resolution zu bereiten, die die Jagd auf Delfine und Kleinwale verurteilt und einen strengeren Schutz einfordert. Für einzelne Arten, die auch für den internationalen Handel relevant sind (z. B. Narwale), soll der Bericht auch die Grundlagen liefern, um ggf. Schutzinitiativen für die CITES-Konferenz (Washingtoner Artenschutzübereinkommen) im Frühjahr 2025 den Weg zu ebnen.
Download des Berichts von Pro Wildlife und WDC:
Titelfoto: Jagd auf Delfine, Salomon-Inseln. © Dolphin Project
Zum Hintergrund: Artenschutzexpertin Dr. Sandra Altherr
Projektleiterin der Berichterstellung ist Dr. Sandra Altherr. Die Diplom-Biologin nimmt seit 1999 für Pro Wildlife als akkreditierte Beobachterin an den IWC-Konferenzen und an den Treffen von CITES teil. Entsprechend verfügt sie über exzellente Kontakte zu Delegierten der Mitgliedsstaaten und ist mit Tier- und Artenschutzorganisationen weltweit hervorragend vernetzt.
Im September 2018 förderten wir die Teilnahme von Sandra Altherr an der 67. Tagung der Internationalen Walfangkommission, die im brasilianischen Florianópolis stattfand. Damals stand zum wiederholten Mal das weltweite Walfangverbot auf dem Spiel. Doch es wurde ein Sieg für die Wale! Japans Antrag wurde mit 41 zu 27 Stimmen abgelehnt. Neben den klassischen Walfangbefürwortern Island und Norwegen unterstützten hauptsächlich Länder aus Afrika und dem asiatischen Raum den Antrag für den Walfang.