US-Behörde für Ozeanografie erklärt: das Grauwalsterben im Nordpazifik ist zu Ende!

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Im Zeitraum vom 17. Dezember 2018 bis zum 9. November 2023 strandeten 690 Grauwale an den Küsten von Kanada, USA und Mexiko. Bereits zu Beginn des ungewöhnlichen Grauwalsterbens rief die Fischereiabteilung der Wetter- und Ozeanografiebehörde der USA, NOAA Fisheries, einen Unusual Mortality Event (UME) aus. Wenn ein UME (ein außergewöhnliches Sterblichkeitsereignis in einer Population) erklärt wird, folgen sofortige Untersuchungen und die Einleitung von Gegenmaßnahmen. Nachdem die Sterblichkeitsrate wieder auf Normalniveau gesunken war, erklärte NOAA Fisheries im März 2024 das UME und damit das Grauwalsterben im östlichen Nordpazifik für beendet.

Der Grauwal – ein Wal wie kein anderer

Der Grauwal (Eschrichtius robustus) verdankt seinen Namen der grau melierten Körperfarbe. Auffällig sind die vielen, unregelmäßig auf der Haut verteilten Seepocken und Walläuse. Diese ständig zu transportierende Zusatzlast kann rund 200 kg schwer werden. Grauwale leben grundsätzlich in Küstennähe. Daher sind sie eine der am besten untersuchten Walarten. Die jährlichen Rundwanderungen der ostpazifischen Grauwale gehören zu den bekanntesten und längsten im Tierreich. Bei ihrer Rundwanderung zwischen den Nahrungsgründen entlang der Küste Alaskas und den Fortpflanzungsgründen entlang der Küste Mexikos in die Baja California legen sie bis zu 20.000 Kilometer zurück. Normalerweise treffen sie im Dezember in der Baja California ein. Dort halten sie sich dann bis zu vier Monate lang auf, um ihre Jungen zur Welt zu bringen. Dann geht es wieder zurück. Lediglich Buckelwale wandern noch längere Strecken.

Ein Wal mit eigener systematischen Familie

Grauwale unterscheiden sich derart deutlich von allen anderen Walen, dass man sie einer eigenen systematischen Familie zugeordnet hat. Unter den heutigen Bartenwalen, zu denen z. B. Buckelwale oder Finnwale zählen, steht die Art einmalig da. Denn ein Grauwal sucht seine Nahrung hauptsächlich am oder über dem Meeresboden. Dort filtert er allerlei kleine Organismen aus dem Sediment oder der Wassersäule. Ungewöhnlich ist auch, dass die Tragzeit dieser Meeressäuger bei über einem Jahr liegt.

Artensteckbrief Grauwal

Wie groß ist ein Grauwal?

Bei einer Körpergröße von bis zu 15 m bringt ein Grauwal etwa 34 Tonnen auf die Waage.

Was fressen Grauwale?

Sie ernähren sich von einer breiten Palette benthischer (auf oder im Meeresboden) und epibenthischer (über dem Sediment) lebender Organismen wie Würmern, Krebstieren (Flohkrebse oder Ruderfußkrebse), Schnecken und kleinen Fischen. Bis zu 1,25 Tonnen dieser Nahrung kann ein ausgewachsener Wal täglich konsumieren.

Wo leben Grauwale?

Die Art ist auf die Nordhalbkugel beschränkt. Während des 17. und 18. Jahrhunderts gab es die grauen Riesen auch im Nordatlantik. Dort gelten sie seit den frühen 1700er-Jahren jedoch als funktionell ausgestorben. Walfänger hatten den Bestand bis zum letzten Exemplar ausgerottet.
Im Nordpazifik leben zwei sehr unterschiedlich große Grauwal-Populationen. Die eine besteht aus nur etwa 300 erwachsenen Tieren. Sie lebt im Westpazifik (Nordost-Sachalin und Südost-Kamtschatka). Sehr viel größer ist dagegen die Grauwal-Population im Ostpazifik. Der Bestand unterliegt jedoch starken Schwankungen. Vom Höchststand aus 2016, mit 27.000 erwachsenen Exemplaren, ging ihr Bestand bis 2023 auf nur noch 14.500 Grauwale zurück. Wissenschaftler vermuten, dass die ostpazifische Population ihre heutige Lebensraum-Kapazität ausgeschöpft hat.

Grauwale im Atlantik und im Mittelmeer – wie kann das sein?

Walfänger hatten die Atlantischen Grauwale vor mehr als 300 Jahren ausgerottet. Doch nach Angaben des New England Aquarium soll es in den letzten 15 Jahren 5 Grauwalsichtungen im Atlantik und Mittelmeer gegeben haben.

Einzelne Grauwale schwammen sogar bis in den Südatlantik. 2013 tauchte einer in der Walfischbucht vor Namibia auf. Das war der erste bekannte Nachweis von Grauwalen in der südlichen Hemisphäre. Andere Tiere zog es sogar bis ins Mittelmeer: Am 9. Mai 2010 fotografierte Meeresbiologe Aviad Scheinin von unserer Partnerorganisation Delphis und Wissenschaftler der IMMRAC (Israel Marine Mammal Research and Assistance Center) einen Grauwal vor der Küste Israels. Er wurde dann nochmals am 30. Mai vor der Ostküste Spaniens gesichtet. Sein Schicksal ist ungewiss. Im April 2021 entdeckte man einen anderen Grauwal im Golf von Neapel.

Ein Grauwal vor Miami Beach

Am 19. Dezember 2023 schwamm ein 12 m großer Eschrichtius robustus vor der Skyline von Miami Beach. Bis zum 1. März 2024 hatte er die Strecke bis zur Insel Nantucket im US-Bundesstaat Massachusetts bewältigt. Das war eine weitere Sensation nach dem Grauwal aus der Walfischbucht.

Klimakrise ermöglicht Rückkehr der Grauwale in den Atlantik

Die Frage, welche Route die im Atlantik auftauchenden Grauwale beim „Ocean-Hopping“ genommen haben könnten, ist in der Wissenschaft bisher nicht abschließend geklärt. Zwar wollen Wissenschaftler1 Wanderrouten ums Kap Hoorn an der Spitze Südamerikas, durch den Suezkanal oder den Panamakanal nicht ausschließen, halten sie aber für wenig wahrscheinlich.

Es gibt immer weniger Grauwale: Weibchen mit Kalb.
Kehren Grauwale in den Atlantik zurück? Ein Weibchen mit ihrem Jungtier. © NOAA Fisheries

Für sehr viel wahrscheinlicher dagegen halten sie die Theorie, dass die reiselustigen Bartenwale den von der Klimakrise befeuerten Rückgang des arktischen Eises ausnutzen. Noch vor wenigen Jahren hatte eine arktische Meereiswand polares „Ocean-Hopping“ verhindert. Denn als Säugetiere können Grauwale keine langen Strecken unter einer geschlossenen Eisdecke schwimmen.

Wissenschaftler gehen davon aus, dass die Erderhitzung es möglich macht, dass Grauwale sich ihre einstigen Lebensräume im Nordatlantik, vielleicht sogar bis in den Südatlantik zurückerobern. Infrage kommen die rund 6.500 km lange Nordwestpassage oder Teilstrecken der rund 5,780 km langen Nordwestpassage. Beide sind seit einigen Jahren von immer weniger Meereis bedeckt.

Grauwale gründeln und wühlen am und im Meeresboden

Seine Nahrungsaufnahme macht den Grauwal einzigartig. Wenn die Giganten in Sedimenten am Meeresboden gründeln und wühlen, rollen sie sich langsam schwimmend auf die Seite. Dabei filtern sie die Nahrung durch die 130 bis 180 groben Bartenplatten auf beiden Seiten ihres Oberkiefers und hinterlassen lange Schlammspuren und „Fütterungsgruben“ (feeding pits) im Meeresboden. Hierbei bevorzugen die meisten Grauwale ihre rechte Seite. Dies führt im Laufe zur schnelleren Abnutzung der rechten Barten.

Ostpazifische Grauwale fressen fast ausschließlich während der Sommermonate in den nahrungsreichen, kalten Gewässern vor der Westküste Kanadas und der USA. Dadurch wird die lange Wanderung bis nach Mexiko und zurück zum Risiko. Denn in dieser Zeit nehmen sie kaum noch Nahrung zu sich. Auch nicht, während sie den Winter vor der Küste Mexikos verbringen.

Ein Grauwal in der Baja California zeigt seine Barten.

Grauwal in der Lagune von San Ignacio, Mexiko. © Iris Ziegler

Jährliches Grauwal-Treffen in der Baja California

Wie die anderen Bartenwale auch, wandern Grauwale zwischen Nahrungs- und Fortpflanzungsgründen hin und her. Wobei der Reproduktionszyklus eng an den Wanderzyklus gebunden ist. Fast alle Tiere treffen sich jedes Jahr in den geschützten Lagunen der Baja California.

Das sehr salzhaltige und flache Wasser der Lagunen ist optimal, um die bei der Geburt bereits etwa viereinhalb Meter langen und 500 Kilogramm schweren Kälber sicher auf die Welt zu bringen und aufzuziehen. Walkälber kommen bei der Geburt mit dem Schwanz voran zur Welt. Sie werden sofort von ihren Müttern und manchmal „Helferinnen“ an die Wasseroberfläche gebracht, damit sie ihre Lungen mit Luft füllen können.

Die Meeressäuger setzen im Sommer und Herbst „alles auf eine Karte“, erklärt NOAA Fisheries. Das ist die Zeitspanne, in der sie versuchen müssen, sich satt zu essen. Nur so können sie die folgenden sechs Monate überleben. Dem größten Ernährungsstress sind sie dann während der erneuten Migration nach Norden ausgesetzt. Dann stoßen sie möglicherweise an die Grenzen ihrer Fettreserven.

Grauwalstrandungen 2019 bis 2023

Grauwal-Strandungen 2019–2023.
© NOAA Fisheries

Am 14. März 2024 erklärte NOAA Fisheries das ungewöhnliche Massensterben der ostpazifischen Grauwalpopulation für beendet. Während 2016 noch 27.000 Grauwale die amerikanische Westküste entlangwanderten, war ihr Bestand Mitte 2023 auf 14.500 erwachsene Tiere gesunken.

Von den 690 während des UME dokumentierten Strandungen fanden 347 an der US-Küste, 316 in Mexiko und 27 an der kanadischen Küste statt.

Jährliche Grauwalstrandungen in den USA, Mexiko und Kanada von 2015 bis 2023.
© NOAA Fisheries

Die Wissenschaftler des UME-Teams gehen davon aus, dass lokale Veränderungen des Ökosystems in den subarktischen und arktischen Nahrungsgebieten der Wale die Hauptursache für das Massensterben darstellen. Aufgrund von weniger Meereis konnten die Wale nicht genügend Nahrung finden. Dies führte zu Unterernährung, einer verminderten Geburtenrate und einer erhöhten Sterblichkeit. Weitere Todesursachen, die während des UME dokumentiert wurden, sind Orca-Angriffe, Schiffskollisionen und Verhedderungen in verlorenem Fischereigerät.

Interaktive Karte von NOAA Fisheries:

2019-2023 Gray Whale Unusual Mortality Event Dead Animal Locations Mapping Application

Bisher geht man davon aus, dass das jüngste Grauwalsterben keine langfristige Gefahr für das Überleben der Art darstellt. Denn der jetzt beobachtete Rückgang ähnelt früheren Schwankungen der ostpazifischen Population. Von 1999 bis 2000 verstarb mehr als ein Fünftel der Gesamtpopulation. Anschließend ging es wieder bergauf. 2016 zählten NOAA-Wissenschaftler wieder 27.000 Tiere. Dies ist der bisherige Höchststand.

Das Überleben der Grauwale – eine Erfolgsgeschichte

Die ostpazifischen Grauwale zählen zu den Erfolgsgeschichten im Meeresschutz. Bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts waren auch sie durch den kommerziellen Walfang fast ausgerottet. 1946 dann verbot die Internationale Walfangkommission (IWC) die Jagd. Damit konnte das Aussterben verhindert werden. 1994 dann konnte die Art wieder von der Roten Liste bedrohter Tierarten gestrichen werden. Seitdem nahm ihre Zahl stetig zu, erreicht aber nicht mehr die Höhe aus der Zeit vor dem kommerziellen Walfang. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts soll es ca. 96.000 Grauwale gegeben haben.

  1. Scheinin, Aviad; Kerem, Dan; MacLeod, Colin; Gazo, Manel; Chicote, Carla; Castellote, Manuel; – Gray whale (Eschrichtius robustus) in the Mediterranean Sea: Anomalous event or early sign of climate-driven distribution change? – December 2011 -Marine Biodiversity Records 4; DOI: 10.1017/S1755267211000042 ↩︎

Update: erweiterter und überarbeiteter Beitrag

Titelfoto: Springender Grauwal, NOAA Fisheries/Dave Weller


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