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Seit Mitte Juli 2022 zählen Wissenschaftler aus acht europäischen Ländern sechs Wochen lang Kleinwale in der Nordsee und in angrenzenden europäischen atlantischen Gewässern. Die Walzählung heißt SCANS-IV (Small Cetaceans in European Atlantic waters and the North Sea). Sie findet zum vierten Mal seit 1994 statt. Man erhofft sich davon belastbare Daten zur Bestandssituation von Kleinwalarten wie Schweinswalen in den untersuchten Gebieten. Denn zum einen ist es für Artenschutzmaßnahmen notwendig zu wissen, welche Arten wie, wo und in welcher Zahl vorkommen. Zudem ist Deutschland durch die EU-Meeresstrategie-Rahmenrichtlinie verpflichtet, die Bestände zu erfassen. Gleichzeitig fordert die EU-Flora-Fauna-Habitat-Richtlinie (FFH-Richtlinie) regelmäßig Berichte über den Erhaltungszustand der Arten und entsprechende Maßnahmen.
Inhaltsverzeichnis
International einzigartige Bestandserfassung
Koordiniert wird die Walzählung SCANS-IV erneut vom Institut für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover (TiHo). Federführend ist diesmal Meeresbiologin Anita Gilles aus Büsum. Sie leitet die Beobachtungseinsätze und Datenanalysen der acht an dieser international einzigartigen Walzählung teilnehmenden Teams.

Das Forschungsgebiet von SCANS-IV ist riesig. Es erstreckt sich über 1,4 Millionen Quadratkilometer und reicht von Südnorwegen bis westlich von Schottland und zur Straße von Gibraltar. © SCANS-IV
Walzählung SCANS-IV soll belastbare Daten liefern
Um die vielfältigen, für Meeresumwelt und Kleinwale negativen Folgen menschlicher Aktivitäten besser einschätzen zu können, erhoffen sich die Forschenden solide Daten zur aktuellen Situation der Bestände. Denn insbesondere Schweinswale stehen durch Fischerei, Lärmemissionen beim Bau von Offshore-Windkraftanlagen, Schifffahrt, Munitionsaltlasten, Sand- und Kiesabbau, Unterwasserlärm, Meeresverschmutzung und Zerstörung der Lebensräume unter Druck.

„Die aktuelle SCANS-Kampagne leistet einen wichtigen Beitrag für die Erhaltung der Biodiversität in Europa: Sie wird es den Mitgliedsstaaten ermöglichen, das Wissen über den ökologischen Zustand ihrer Meeresgewässer zu aktualisieren und neu zu bewerten“, erklärt Gilles. © ITAW/Dominik Nachtsheim
Gar nicht so einfach: Walzählung per Flugzeug und vom Schiff
Die Walzählung erfolgt vorzugsweise mit dafür umgebauten Leichtflugzeugen. Sechs Wochen lang fliegen die acht Teams das Gebiet systematisch entlang festgelegter Linien ab. Dazu hat man die Gesamtfläche in über 40 Sektoren unterteilt. Lediglich im für Delfine und andere Kleinwale besonders gefährlichen Golf von Biskaya kommt ein Forschungsschiff zum Einsatz. Das Gebiet ist für SCANS-Flugzeuge schlichtweg zu weit vom Festland entfernt.

© ITAW/Anita Gilles
Walzählung aus dem Bubble-Fenster
Man darf wahrlich keine Flugangst haben, wenn man an einer SCANS-Walzählung teilnimmt. Die doppelmotorisierten Propellermaschinen sind mit langsamen 185 km/h in lediglich 183 Metern Höhe unterwegs. Und das stundenlang. Jedes SCANS-IV-Walzählungsteam besteht aus drei Mitgliedern. Zwei davon sind Observer. Sie schauen durch runde, konvexe „Bubble“-Fenster (siehe Titelfoto), mit denen die Flugzeuge ausgestattet sind. Damit haben sie einen ungehinderten Blick in die Tiefe und aufs Meer. Die dritte Person des SCANS-IV-Teams erfasst die von den Observern übermittelten Daten.
Erste SCANS-IV-Ergebnisse erst im nächsten Jahr
Eine erste Einschätzung zu den erfassten Daten soll es 2023 geben. Bis zur Vorlage der Ergebnisse muss man sich bis 2024 gedulden, wenn SCANS-IV zu Ende geht.
Laut der vorhergehenden drei SCANS-Walzählungen von 1994, 2005 und 2016 sollen in dem untersuchten Gebiet etwa 1,5 Millionen Kleinwale leben. Dabei hat sich die Gesamtzahl der Schweinswale von 1994 bis 2016 kaum verändert. Trotzdem waren deutliche Populationsverschiebungen aus nördlichen in südliche Gebiete ersichtlich. Zudem verzeichneten Schweinswal-Populationen in der Keltischen und Irischen See einen starken Rückgang. Über die genauen Gründe herrscht Unklarheit. Neben erhöhtem Beifang kämen auch das regional wechselnde, eventuell auch zunehmend verminderte Beuteangebot und die steigenden menschlichen Einflüsse in Frage, vermutet Anita Gilles.
Finanziert wird die SCANS-IV-Walzählung vom Bundesamt für Naturschutz (BfN) aus Mitteln des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz sowie von den Regierungen der anderen beteiligten Länder.
Titelfoto: Blick für die Walzählung aus einem Bubble-Fenster. © Nino Pierantonio