Eine der extremsten Formen unterschiedlicher Geschlechtergrößen entdeckten australische Forscher 2002 bei der seltenen Löcherkrake (Tremoctopus violaceus). Die auch als Blanket Octopus bekannte Art hat die kleinsten selbstständig lebenden Männchen im Tierreich. Sie sind nur 3 cm groß. Weibchen bringen es dagegen auf 2 m Größe. Der starke Geschlechtsdimorphismus ist jedoch sinnvoll. Löcherkraken leben in Korallenriffen der subtropischen und tropischen Ozeane und im Mittelmeer. Sie haben kein Revier, sind durchgehend in Bewegung und verfügen über eine breite Temperaturtoleranz. Die spektakuläre Krakenart ist laut Roter Liste der Weltnaturschutzorganisation IUCN nicht bedroht (least concern). Für eine Bewertung der Bestandsentwicklung gibt es allerdings nicht genügend Daten. Man schätzt, dass diese Oktopusse drei bis maximal fünf Jahre alt werden können.
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Woher kommen die Namen Löcherkrake und Blanket Octopus?
Bei den Weibchen dieser skurrilen Krakenart sind die oberen vier Arme ungewöhnlich lang. Zwischen ihnen befindet sich eine Membran. Diese können sie wie ein Segel aufspannen und bei Gefahr abwerfen. Bei Dunkelheit oder in lichtarmen tieferen Meeresregionen ist das kraken-übliche Ausstoßen von Tinte ineffektiv. Wahrscheinlich verfügt keine andere Oktopus-Art über einen derart ungewöhnlichen Verteidigungsmechanismus.
Wegen ihrer Segel-Membran nennt man die Art auf Portugiesisch „polvo de véu“ (Segelkrake) und auf Englisch „blanket octopus“ (Deckenkrake). Der deutsche Name Löcherkrake bezieht sich dagegen auf zwei runde Löcher in der Segel-Membran mit unbekannter Funktion.
Löcherkraken haben die kleinsten Männchen
Dem Zoologen Mark Norman und seinen Kollegen (Victoria-Museum, Melbourne) gelang es 2002 erstmals, ein lebendes Männchen zu fotografieren. Doch nicht nur das. Bei einem Nachttauchgang nördlich des Great-Barrier-Reef konnten sie ein Exemplar einfangen. Das war ein mehr als glücklicher Fund. Denn ein männlicher Löcherkrake ist mit 3 cm Länge nur etwa so groß wie eine Bohne oder wie die Pupille des Weibchens. Folglich sind sie Leichtgewichte. Wiegen nur ein Viertelgramm. Dagegen erreichen Weibchen bis zu 10 kg. Damit sind sie um das 40.000-Fache schwerer. Zudem sind sie bis zu 2 m groß.
Bei größeren Tierarten kennt man einen derart ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus nicht. Ähnliches gibt es sonst nur noch bei einer Igelwurmart und einigen Rankenfußkrebsen. Bei Letzteren ist das Männchen allerdings fest mit dem Weibchen verwachsen. Außerdem ist es auf die Funktion eines Spermienproduzenten reduziert.
Kleine Löcherkraken-Männchen mit früher Geschlechtsreife
Löcherkraken sind ständig in Bewegung. Direkt am Meeresboden findet man sie im Gegensatz zu vielen anderen Oktopus-Arten nie. Es sei deshalb schwierig, ein Weibchen zu finden, vermuten die australischen Forscher. Beim harten Konkurrenzkampf um eine Partnerin könnte ihre Winzigkeit den Männchen jedoch entscheidende Fortpflanzungsvorteile eröffnen. Denn je schneller sie ihre Geschlechtsreife erreichen, desto eher haben sie eine Chance, sich zu verpaaren.
Weiblichen Löcherkraken ist dieser Weg dagegen versperrt. Sie müssen, um möglichst viele Eier produzieren zu können, groß werden. Produktive Weibchen bringen es auf über 100.000 Eier!
Wehrhafter Winzling – kurzes Leben
Trotz ihrer mickrigen Größe darf man männliche Löcherkraken nicht unterschätzen. Denn sie wissen sich zu bewaffnen. Für Auseinandersetzungen mit Nebenbuhlern und zur Verteidigung greifen sie sich abgerissene, giftige Tentakeln der Portugiesischen Galeere. Diese halten sie mit den Saugnäpfen ihrer beiden oberen Arme fest. Das Gift der Staatsquallen kann den Löcherkraken nichts anhaben, sie sind immun. Doch ein langes Leben ist den tapferen Oktopusmännern trotzdem nicht beschieden.
Ein Löcherkraken-Weibchen. © OceanImageBank/MikeBartick
Wie bei Oktopoden üblich, fungiert einer ihrer acht Arme als Spermien-Transporter. Man nennt dieses spezielle Fortpflanzungsorgan Hectocotylus. Begegnet das Männchen einem Weibchen, führt es seinen Hectocotylus in die Körperöffnung des Weibchens ein. Anschließend bricht der mit Spermien gefüllte vordere Teil ab und wandert selbstständig in das Innere der Partnerin. Dort verbleibt er, bis das Weibchen seine Eier befruchtet hat. Weibliche Kraken tragen dabei häufig die Hectocotyli-Spitzen mehrerer Männchen mit sich herum.
Nach dem Paarungsakt stirbt das Männchen in der Kiemenhöhle seiner Auserkorenen. Zu den kleinsten Männchen im Tierreich zu gehören, ist als Blanket Octopus wahrlich kein Vergnügen.
Oktopusse: achtarmige Superhirne
Oktopusse oder Kraken sind die intelligentesten und am höchsten entwickelten Vertreter des Tierstamms der Mollusken. Man nennt sie Superhirne auf acht Beinen. Sie besitzen ein hoch entwickeltes, dezentralisiertes Nervensystem. Dabei befinden sich drei Fünftel ihrer Nervenzellen nicht im Gehirn, sondern in den Armen. Diese können unabhängig voneinander und wahrscheinlich ohne Steuerung oder Wissen des Haupthirns Aktionen durchführen. Im Grunde besitzen Oktopusse neun Gehirne. Auch abgetrennte Oktopusarme können noch mehrere Stunden lang als pseudo-selbstständige Organismen agieren.
Diese Weichtiere gehören zu den sonderbarsten Meerestieren. Manche von ihnen wie die Löcherkrake sind so eigenartig, man könnte sie für Wesen von einem anderen Planeten halten. Neben ihren acht Armen verfügen sie über drei Herzen. Ihr Blutz ist blau. Bei ihnen bindet kupferhaltiges Hämocyanin den Sauerstoff.
Oktopusse sind farbenblind. Und doch können sie ihren Körper in Form und Farbe in Sekundenbruchteilen derart verändern, dass dieser mit der Umgebung optisch verschmilzt.
Ihre Lernfähigkeit, ihr Gedächtnis und ihre ausgeprägte Neugier sind legendär. Das ist so komplex, dass man sie mit höher entwickelten Wirbeltieren gleichsetzt. Unzweifelhaft besitzen diese seltsamen Tiere ein Bewusstsein.
Kurzlebige Einzelgänger mit aufopferungsvoller Brutpflege
Was Oktopusse jedoch deutlich von anderen intelligenten Meerestieren wie dem Großen Tümmler unterscheidet, sind ihre kurze Lebensdauer und ihre fehlende Sozialkompetenz. Meist werden sie nur drei bis vier Jahre alt. Lediglich Tiefsee-Arten leben länger. Und die achtarmigen Superhirne sind notorische Einzelgänger. Sie gehen sich aus dem Weg, gönnen einander nichts.
Legendär ist ihr intensives Brutpflegeverhalten. Die Weibchen belüften und reinigen ihre vorwiegend in Höhlen oder Spalten geschützt gelagerten Eier. Es sind je nach Art Tausende oder mehrere Hunderttausend. Das Weibchen frisst in dieser Zeit nichts. Sie wird immer schwächer, bleibt dennoch rund um die Uhr bei ihrem heranwachsenden Nachwuchs. Je nach Art vergehen so mehrere Wochen oder auch Monate. Rekordhalterin ist ein kleiner Tiefsee-Oktopus der Art Graneledone boreopacifica. Ein vor der Küste Kaliforniens lebendes Weibchen bewachte seine Brut viereinhalb Jahre. Es ist die längste bekannte Brutzeit aller Tierarten1.
Eines Tages schlüpfen zahllose Mini-Oktopusse. Während sie in ihr neues Leben hinaus ins Meer treiben, stirbt das Weibchen. Die Männchen können sich nicht um den Nachwuchs kümmern. Sie sterben in der Regel direkt nach der Befruchtung.
Casper, das Tiefsee-Gespenst
Im März 2016 geisterte in 4.290 m Tiefe vor der hawaiianischen Küste ein kleiner, fast transparenter Oktopus durch das Sichtfeld des Tauchroboters „Deep Discoverer“ der US-amerikanischen Wetter- und Ozeanografiebehörde (NOAA). Ganz allein saß die etwa zehn Zentimeter kleine Krake auf einem flachen Felsen und bewachte ihre Eier – denn es handelte sich um ein Weibchen. Und um eine unbekannte Art.
Als „Casper, das Tiefsee-Gespenst“ wurde dieser Oktopus weltberühmt. Neben seiner auffälligen Transparenz wies „Casper“ auf jedem Fangarm nur eine statt der sonst üblichen zwei Reihen von Saugnäpfen auf.
- Deep-Sea Octopus (Graneledone boreopacifica) Conducts the Longest-Known Egg-Brooding Period of Any Animal
Robison B, Seibel B, Drazen J (2014) Deep-Sea Octopus (Graneledone boreopacifica) Conducts the Longest-Known Egg-Brooding Period of Any Animal. PLOS ONE 9(7): e103437. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0103437 ↩︎
Titelfoto: Löcherkrake – Blanket-Oktopus © OceanImageBank/MikeBartick
Cambridge Declaration on Consciousness
Am 7. Juli 2012 unterzeichneten einige der klügsten Köpfe, darunter Irene Pepperberg, David B. Edelman, Diana Reiss, Kristof Kock, Philip Low und Stephen Hawking, die „Cambridge Declaration on Consciousness„. Darin trafen sie eine klare Aussage: Tiere haben ein Bewusstsein.
„Menschen sind nicht einzigartig darin, über neurologische Strukturen zu verfügen, in denen Bewusstsein entsteht. Nicht-menschliche Tiere wie alle Säugetiere und Vögel und viele andere Lebewesen, darunter Oktopusse, besitzen dieselben neurologischen Strukturen.“
Cambridge Declaration on Consciousness
Buchtipp: Rendezvous mit einem Oktopus
von Sy Montgomery
„Er kann 1600 Küsse auf einmal verteilen, er kann mit seiner Haut schmecken, Farbe und Form ändern und sich trotz eines Körpergewichts von 45 Kilogramm durch eine apfelsinengroße Öffnung zwängen: der Oktopus“. Und nicht nur seine körperlichen Superkräfte machen den Achtarmigen zu einem Wunderwesen der Meere. Kraken sind primär schlau. Sie können tricksen, spielen, lernen, sie können Menschen erkennen und Kontakt aufnehmen.
In ihrem preisgekrönten Buch erzählt die Naturforscherin Sy Montgomery auf berührende, kenntnisreiche, unterhaltsame Weise von ihren Begegnungen mit diesen außergewöhnlichen Tieren. Dabei wirft sie eine bemerkenswerte Frage auf: Haben Kraken ein Bewusstsein?
„Wenn man dieses Buch gelesen hat, versteht man die Seele der Ozeane.“
Peter Wohlleben
Das Nachwort wurde eigens für die deutsche Ausgabe von dem bekanntesten Fan dieses Buches verfasst: Donna Leon.