Nordatlantische Glattwale (Eubalaena glacialis) gehören zu den am stärksten gefährdeten Großwalarten. Wie jedes Jahr gab die Fischereiabteilung der Wetter- und Ozeanografiebehörde der USA (NOAA Fisheries) im Oktober ihre aktuelle Populationsschätzung für das Vorjahr bekannt. Im Jahr 2023 lebten entlang der kanadischen und US-Küste demnach rund 370 Exemplare der auch Atlantischer Nordkaper genannten Art. Die Daten erfassen den Zeitraum bis November 2023. Die vorläufige Bestandsschätzung für dieses Jahr zeigt eine Stabilisierung bei 372 (+11/-12) Exemplaren. Damit steigt der Nordkaper-Bestand durch mehr Geburten und geringere Sterblichkeit langsam wieder an. 2022 hatte ihn NOAA Fisheries auf durchschnittlich 367 Individuen mit gerade noch 70 reproduktionsfähigen Weibchen beziffert. Den niedrigsten Stand seit fast 20 Jahren vermerkten die NOAA-Wissenschaftler mit etwa 358 Exemplaren (ausgewachsene Tiere und Jungtiere) im Jahr 2020.
Aussterberisiko ist nach wie vor hoch
„Die Hoffnung auf ein verringertes Aussterberisiko für diese ikonischen Bartenwale ist nach Jahren des Niedergangs leicht gestiegen, immerhin“, sagt Ulrich Karlowski, Biologe von der Deutschen Stiftung Meeresschutz. „Dennoch sind Nordatlantische Glattwale nach wie vor stark gefährdet. Nach wie vor besteht für sie ein anhaltendes ungewöhnliches Sterblichkeitsereignis (Unusual Mortality Event/UME). Ihr Bestand ist nach wie vor beängstigend niedrig“. Wissenschaftler schätzen, dass nur etwa ein Drittel der Nordkaper-Todesfälle im Nordatlantik entdeckt wird.
Die Hauptursache für den Zusammenbruch der Population war die hemmungslose Jagd in Zeiten des kommerziellen Walfangs. Davon haben sich die Nordatlantischen Glattwale bis heute nicht erholen können. Hauptgrund hierfür sind andauernde Verluste der extrem küstennah wandernden Großwale durch Schiffskollisionen und Verhedderungen in Befestigungsleinen von Reusen für den Hummerfang. Ausgewachsen sind Nordatlantische Glattwale über 18 m lang und über 63 Tonnen schwer.
Todesursachen: Fischereileinen und Schiffskollisionen
Hummerfischer befestigen und markieren ihre am Meeresgrund ausgelegten Fanggeräte durch reißfeste Leinen mit an der Meeresoberfläche dümpelnden Bojen. Nordatlantische Glattwale wandern sehr nah an der nordamerikanischen Küste. Dadurch treffen sie fast zwangsläufig auf die für sie nicht gut erkennbaren Leinen. Das ist fatal. Sie verheddern sich. Sie winden und drehen sich. Doch allzu oft gelingt es ihnen nicht, sich zu befreien.
Da es nur noch so wenige Nordkaper gibt, tragen mittlerweile 86 Prozent aller Nordatlantischen Glattwale Spuren von Verhedderungen.
Ein fünfjähriger Nordkaper wird befreit. Das Campobello-Walrettungsteam entfernt Befestigungsleinen von Hummer-Reusen und Angelschnüre; Sankt-Lorenz-Golf, Kanada, 11. Juli 2019. Foto: NOAA Fisheries
Ein Martyrium beginnt: Über Wochen und Monate schleppt so ein verhedderter Nordkaper Leine, Hummerfalle und Boje hinter sich her. Immer tiefer schneiden sich die Leinen ins Fleisch. Immer schwerer wird es, voranzukommen, Nahrung aufzunehmen, abzutauchen. Es ist eine einzige Qual.
Falls der Wal nicht das Glück hat, von einem der mobilen US-Walrettungsteams gefunden und von den Leinen befreit zu werden, kommt der Tod schließlich als Erlösung.
Gegenmaßnahmen der USA und Kanadas
Für eine gewisse Entlastung der Gefahrenlage durch Verhedderungen haben in den vergangenen Jahren Versuche mit modifizierten, nicht fixierten Befestigungsleinen gesorgt. Hinzu kommen temporäre, 15-tägige Schließungen der Hummerfischerei, wenn Nordatlantische Glattwale die befischte Küstenregion entlangschwimmen und die Fischerei reißfeste Befestigungsleinen einsetzt.
Weitere Maßnahmen betreffen die Verpflichtung, verloren gegangenes Fischereigerät zu melden, die Entfernung treibender Reusen und Leinen (Ghost gear retrieval activities) und anderes mehr.
Vor der US-Küste gibt es für Schiffe von über 20 m Länge zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Regionen Langsamfahr- oder Umfahrensgebote. Damit sollen Kollisionen mit Nordkapern vermieden werden. Quelle: NOAA
Zu hohe Verluste
2018 kam nicht ein einziger Nordatlantischer Glattwal zur Welt. Dagegen weiß man für den Zeitraum Juni 2017 bis 2019 von mindestens 30 toten Walen in US- und kanadischen Gewässern. Darunter 17 weibliche Tiere. Zehn weitere, die mit schwerwiegenden Verletzungen gesichtet wurden, gelten als tot. Seit 2017 verlor die Art mindestens 20 Prozent ihres Bestands durch unnatürliche Todesursachen. Deshalb erklärte NOAA Fisheries einen „Unusual Mortality Event“ (UME). Das ist eine Art Notstand aufgrund einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Todesfällen in einer Meeressäugerpopulation. Ein UME erfordert unmittelbare Maßnahmen.
Forschende gehen davon aus, dass die stark geschrumpfte Population höchstens einen Verlust von 0,9 Tieren pro Jahr wegen menschlicher Aktivitäten verkraften kann. Berechnungen der am UME beteiligten NOAA-Wissenschaftler zeigen, dass von 2017 bis Oktober 2022 mindestens 15 Nordkaper pro Jahr starben (Schiffskollisionen, schlechter Gesundheitszustand, Verstrickung und daraus folgende Verletzungen und Erkrankungen).
Nordkaper – die richtigen Wale
Einst waren Glattwale die bevorzugte Beute von Walfängern. Denn es war nicht schwer, diese küstennah und langsam schwimmenden Großwale zu jagen. Daher auch der englische Name „right whale“, der richtige Wal zum Töten! Zudem gehen sie nicht unter, wenn sie tot sind. Denn bei Glattwalen macht die bei Walfängern begehrte Speckschicht rund 40 Prozent des Körpergewichts aus – das schafft kaum eine andere Walart.
Nachdem sie nahezu ausgerottet waren, stellte man sie bereits 1937 unter Schutz. Doch einige Walfangländer, wie Japan und Russland, kümmerte das wenig. Sie machten noch bis in die 1960er-Jahre illegal weiter.
Seit Juli 2020 sind Nordkaper auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) als „vom Aussterben bedroht“ gelistet. Eine Stufe vor „in der Natur ausgestorben“.
Artensteckbrief Nordatlantische Glattwale
Glattwale besitzen keine Rückenfinne. Ihre Brustflipper sind breit und paddelförmig. Die Fluke ist tief eingekerbt und hat einen glatten Rand. Ihr Kopf ist riesig. Er macht fast ein Drittel ihrer Körperlänge aus. Bis zu 270 etwa 2,80 m lange Barten befinden sich auf jeder Seite der Oberkiefer. Dadurch ist ihr Mund stark gebogen. Vor allem auf der Kopfoberseite finden sich zahlreiche verhornte Schwielen, auf denen Walläuse (kleine Krebstiere) leben. An der Form dieser Schwielen sowie an Narben auf dem Körper lassen sich die Wale individuell erkennen. Nordkaper erzeugen beim Ausatmen eine charakteristische v-förmige Fontäne.
Vor Beginn des industrialisierten Walfangs waren Nordatlantische Glattwale im gesamten Nordatlantik weitverbreitet. Heute jedoch findet man sie nur noch im westlichen Nordatlantik. Vornehmlich an der Ostküste der USA und Kanadas. Von ihren nördlichen Nahrungsgründen (Golf von Maine, Sankt-Lorenz-Golf) wandern sie dicht an der Küste zu den im Südosten der USA liegenden Fortpflanzungsgebieten. Nur vereinzelt schwimmen sie noch in europäischen Gewässern des Nordatlantiks (Island, Norwegen, England, Frankreich, Spanien, Azoren).
Sehr gemächlich. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei 8 km/h. Normalerweise sind sie einzeln unterwegs. Man trifft jedoch auch Gruppen von bis zu zwölf Individuen.
Südlicher Glattwal und Pazifischer Nordkaper
Neben dem Atlantischen Nordkaper gibt es zwei weitere Glattwalarten: den Südlichen Glattwal oder Südkaper (Eubalaena australis) und den Pazifischen Nordkaper (Eubalaena japonica).
Pazifischer Glattwal
Für Eubalaena japonica ist die Überlebenssituation ähnlich kritisch wie bei seinem atlantischen Cousin. Einst im Nordwest- und Nordostpazifik verbreitet, ist er heute nur noch im Ochotskischen Meer und im östlichen Beringmeer zu sehen. Laut der Roten Liste der IUCN ist die Art stark gefährdet, mit unbekannter Populationsentwicklung. Die Subpopulation im Nordostpazifik (Beringmeer und Golf von Alaska) steht mit vielleicht noch 10 bis 20 erwachsenen Exemplaren unmittelbar vor dem Aussterben.
Südlicher Glattwal
Der Südkaper bewohnt die Meere der Südhalbkugel bis ca. zum 55. Breitengrad. Mit rund 13.600 Individuen bildet er die größte Population der drei Arten. Laut der Roten Liste der IUCN gelten Südliche Glattwale derzeit als nicht bedroht.
Im Juli 2021 beobachteten Mitarbeiter von Ecosul Turismo1 aus Santa Luzia etwa 6,5 Kilometer vor der Küste von Ilhéus im Bundesstaat Bahia im Nordosten Brasiliens ein Mutter-Kalb-Paar von Südlichen Glattwalen. Die Beobachter schätzen das Alter des Jungtieres auf etwa 22 Tage. Das war eine ungewöhnliche Beobachtung. Denn Mutter-Kalb-Paare von Südlichen Glattwalen halten sich an der brasilianischen Küste eher in flachen, küstennahen Bereichen und vor allem nicht so weit nördlich auf. Im brasilianischen Bundesstaat Bahia gab es bis dahin nur wenige Beobachtungen dieser Art.
In Brasilien gelten Südliche Glattwale als bedrohte Art. Es gibt schätzungsweise noch 555 Exemplare. Von diesen sind etwa 200 fortpflanzungsfähige Weibchen. Ihr Fortpflanzungsgebiet an der brasilianischen Küste liegt etwa 350 km südlich von Ilhéus bei der Abrolhos-Bank. Seit 1990 beobachtet man Südliche Glattwale hier regelmäßig.
1 Foucart T, De Moura Lima A. Short Communication: Rare record of a southern right whale (Eubalaena australis Desmoulins, 1822) with calf in Ilhéus, Bahia, northeastern Brazil. JCRM [Internet]. 2023 Feb. 21 [cited 2023 Feb. 28];24(1):7-11. Available from: https://journal.iwc.int/index.php/jcrm/article/view/367
Update: überarbeiteter und mit neuem Datum veröffentlichter Beitrag
Titelfoto: © NOAA Fisheries