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Seit einigen Jahren beobachten Meeresschützer und Wissenschaftler mit Sorge, dass in vielen Ländern immer mehr Menschen aus Hunger Delfinfleisch essen. Dazu werden die Meeressäuger gezielt gejagt. Eine der Ursachen hierfür sind Fangflotten der Industrienationen – auch aus der EU. Sie vernichten die Lebensgrundlage lokaler Küstenfischereien. Leere Netze. Leere Mägen. Eine andere Ursache sind „gescheiterte Staaten“ (failed states) wie Jemen, Somalia oder Syrien. Denn wenn ein Staat grundlegende Funktionen nicht mehr erfüllen und seine Bevölkerung mit ausreichend Nahrungsmitteln versorgen kann, dann nimmt sich diese, was sie bekommen kann. Deshalb steigt die Wilderei auf dem Meer und zu Land parallel mit der Not der Menschen. So auch in Venezuela. Ein gescheiterter Staat. Dort trifft es jetzt eine kleine Population von Guyana-Delfinen hart. Sie lebt im Maracaibo-See, einem über 13.500 Quadratkilometer großen Binnenmeer. Noch.
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Keine rosigen Zukunftsaussichten
Guyana-Delfine (Sotalia guianensis) gehören zu den kleineren Delfinarten. Sie leben sehr küstennah. Von Honduras bis kurz hinter São Paulo in Brasilien. Auffällig an ihnen ist ihr rosafarbener Bauch. Doch ihre Zukunft in Venezuela sieht alles andere als rosig aus. Zwar wurde Delfinfleisch hier schon immer gegessen. Doch meist stammte es von zufälligen Beifangopfern.
Dagegen geraten die von Einheimischen Tonina genannten Meeressäuger jetzt verstärkt gezielt ins Visier. Aus Not. Mittlerweile steuert die Population im Maracaibo-See auf ein lokales Aussterben zu.
Die Ernährungslage in Venezuela ist miserabel. Wer kann, flieht. Wer bleiben muss, droht zu verhungern. Benzinknappheit zwingt die Fischer, Treibstoff zu sparen. Daher bleiben sie näher an der Küste. Dadurch treffen sie zwangsläufig häufiger auf küstennah lebende Delfine.
Nicht nur Delfinfleisch, es trifft auch andere Wildtierarten
Hector Barrios-Garrido, Meeresforscher an der venezolanischen Universidad del Zulia1, vermutet, dass in Venezuela noch viele weitere Wildtierarten im Hunger-Visier sind. Pelikane, Meeresschildkröten, Leguane oder Seekühe. Es soll mittlerweile sogar Restaurants geben, die „Spezialgerichte“ mit illegal gejagten Tieren anbieten.
Barrios-Garrido schätzt, dass im Maracaibo-See jährlich mindestens 180 Toninas sterben. Entweder zufällig als Beifang oder gezielt gejagt. Damit hätte der nur bis zu 35 m tiefe Maracaibo-See die unrühmliche Spitzenposition der höchsten Todesrate für diese Delfinart. Die Datenlage dazu ist allerdings miserabel. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein.
Junger Guyana-Delfin, der für den menschlichen Verzehr (Delfinfleisch) getötet wurde. © Hector Barrios-Garrido
Delfinfleisch soll sich nicht als neue Nahrungsquelle etablieren
In Venezuela sind Delfine der Gattung Sotalia (Guyana-Delfin und Amazonas-Sotalia) geschützt. Doch nutzt ihnen das wenig. In gescheiterten Staaten gibt es keinen Wildtierschutz. Ranger geben ihre Arbeit auf. Denn ihr Lohn ist durch jahrelange Hyperinflation mit Inflationsraten von mehreren tausend Prozent nichts mehr wert.
Nun will die Umweltgruppe „Grupo de Trabajo en Tortugas Marinas del Golfo de Venezuela (GTTM-GV)“ mit finanzieller Unterstützung der Internationalen Walfangkommission (IWC) gegensteuern. Mit Aufklärungsprogrammen über die Bedeutung der Delfine im Maracaibo-See. Mit der Förderung von Delfinbeobachtung als alternativer Einkommensquelle. Venezolanische Wissenschaftler befürchten, dass der Jagddruck mit der Zeit zu einem kulturellen Wandel führen könnte und Delfinfleisch sich als Nahrungsquelle etabliert. Bereits jetzt seien junge Fischer stärker an der Delfinjagd interessiert als ihre älteren Kollegen.
Delfine vermehren sich nur langsam. Daher ist der Jagddruck für viele Arten eine ernsthafte Gefahr für ihr Überleben. Besonders für Küstendelfine. Aber auch bei der Population der venezolanischen Guyana-Delfine im Maracaibo-See.
Giftcocktail Delfinfleisch
Menschen, die Tonina-Fleisch essen, vergiften sich allerdings mit der Zeit. Denn Wal- und Delfinfleisch ist dafür bekannt, dass es mit Toxinen belastet ist. Diese akkumulieren bei den weit oben in marinen Nahrungsnetzen agierenden Meeressäugern.
So sind Fleisch und Fettgewebe von Guyana-Delfinen u. a. mit Umweltgiften wie PCB oder Quecksilber (aus der Fluss-Goldgewinnung) über ihre Beutetiere belastet. Hinzu kommen krebserregende und hormonell wirksame Organochlorpestizide wie DDT, Pentachlorphenol, Hexachlorbenzol, Lindan, Aldrin oder Dieldrin mit hoher Persistenz und hohem Bioakkumulationspotenzial. Diese in den meisten Ländern seit Jahren verbotenen Pestizide werden in Südamerika immer noch verwendet.
- Barrios-Garrido H, De Turris-Morales K and Espinoza-Rodriguez NE (2021) Guiana Dolphin (Sotalia guianensis) in the Maracaibo Lake System, Venezuela: Conservation, Threats, and Population Overview. Front. Mar. Sci. 7:594021. doi: 10.3389/fmars.2020.594021 ↩︎
Titelfoto: gewilderter Guyana-Delfin mit Messerschnitten und entferntem Rückenmuskel. Das Delfinfleisch wurde als Fischköder in der Langleinenfischerei verwendet. © Hector Barrios-Garrido