Immer mehr tote Robben in der Nordsee

Nicht nur bei uns, auch im südlichen Teil der Nordsee haben sich Seehunde und Kegelrobben von ihrer fast vollständigen Ausrottung gut erholt. Die Kehrseite dieser Erfolgsgeschichte ist, dass Jungtiere beider Arten in großer Zahl sterben. An der belgischen und niederländischen Nordseeküste stranden seit einigen Jahren immer mehr tote, verletzte oder in Resten von Fischernetzen verhedderte Robben.

Grafik: Immer mehr tote Robben in der Nordsee durch Verheddern in Plastikabfällen aus der Fischerei.

Darauf machen belgische und niederländische Forschende in zwei Studien aufmerksam. Deutlich wird daraus, dass das Ausmaß von durch Fischerei verursachten Bestandsverlusten bei Nordsee-Robben vom Internationalen Rat für Meeresforschung (ICES), der EU-Kommission und dem OSPAR-Abkommen derzeit unterschätzt wird.

Tote Robben an der belgischen Küste

Laut einer Studie1 von Jan Haelters und Francis Kerckhof vom Königlichen Belgischen Institut für Naturwissenschaften sowie Sophie Brasseur von Wageningen Marine Research war die Zahl der Robben-Totfunde an der nur 67 Kilometer langen belgischen Nordseeküste im Jahr 2021 mit 101 extrem hoch. Denn in den vorangegangenen Jahrzehnten fand man nie mehr als 50 tote Robben pro Jahr.

Von den 2021 angeschwemmten Tieren bargen die Forschenden 13 Seehunde, 21 Kegelrobben und 2 nicht mehr identifizierbare Körper, um die Todesursache zu untersuchen. Für 49 Robben lagen lediglich Fotos vor.

Skalpierte und erdrosselte Robben mit schweren Schädelverletzungen

Bei den sezierten Robben und bei denen, wo eindeutige Fotos vorlagen, wiesen 58 (64 %) schwere Kopf- und Halsverletzungen auf. 27 tote Robben hatten fast perfekt kreisförmige Läsionen (Einschnitte) um den Hals. In der Gerichtsmedizin sind diese als Ligaturmarken bekannt. Meist handelte es um Jungtiere, die dieses Verletzungsmuster aufwiesen. Einige tote Robben sahen dabei aus, als wären sie unter Freilegung des oberen Teils des Schädels skalpiert worden. Bei den meisten Tieren war der Schädel nur teilweise vorhanden, wobei der Unterkiefer und ein Teil des Oberkiefers fehlten.

Todesursache: Beifang in Fischernetzen

Die Forschenden gehen davon aus, dass diese Robben als Beifang in Fischereinetzen starben. Hauptsächlich in Stellnetzen und Stellnetz-Verwickelnetzen (Trammelnetze, Mehrwandnetze, Spiegelnetze).

Reste eines Fischernetzes habe sich um den Hals der jungen Kegelrobbe gewickelt.
In Frankreich gestrandete Kegelrobbe, Cap Blanc Nez, 20. März 2016. Foto: Jacky Karpouzopoulos
Quelle: Haelters et al / Lutra 65 (2): 271-283

Die Tiere ertranken in den Netzen und das Einholen des Netzes verursachte dann die typischen Läsionen. Doch es gab auch überlebende: drei Seehunde mit Halsverletzungen. Sie trugen noch Teile eines monofilen Nylon-Fischernetzes, das sich um ihren Hals gewickelt hatte.

Weitere Todesursachen waren: Alter, Krankheit, Nahrungsmangel, Kannibalismus unter Kegelrobben, Angriff durch einen Hund.

Den großen Anteil an Jungtieren mit Ligaturmarken und Skalpierungen unter den toten Robben an der belgischen Küste führen die Autoren auf mehrere Gründe zurück:

  • Größere Robben sind weniger anfällig für Beifang aufgrund ihrer Erfahrung in der Nähe von Netzen. Zudem sind sie kräftig genug, um sich aus eigener Kraft zu befreien.
  • Ihr Kopf passt nicht durch die Netzmaschen.
  • Ertrunkene erwachsene Robben fallen aufgrund ihres Gewichts beim Einholen aus dem Netz.
  • Die Schädelknochen von Jungrobben sind empfindlicher.

Die Zahl der toten Robben, die an der belgischen Küste als Beifang an Land gefunden werden, ist dabei nur ein unbekannter Bruchteil aller durch Fischerei getöteten Robben. „Anhand der Zahlen von einem relativ kurzen Küstenabschnitt kann man davon ausgehen, dass in der südlichen Nordsee und im östlichen Ärmelkanal Hunderte Jungrobben im Frühjahr 2021 als Beifang starben“, schreiben die Autoren.

Immer mehr tote Robben in der Nordsee: Ein Seehund mit einer schweren Halsverletzung, entstanden durch die Einschnürung eines Fischernetzes.
Seehund, der in den Niederlanden strandete, Vlieland, 4. April 2022. Foto: Anthony Grymonprez / Quelle: Haelters et al / Lutra 65 (2): 271-283

Tote Robben an der niederländischen Küste

Ein niederländisches Forscherteam um Anna Salazar Casals vom Robbenzentrum Pieterburen zeigt2, dass Robben auch im niederländischen Wattenmeer immer stärker durch Reste von Fischernetzen und andere Kunststoffabfälle gefährdet sind. Zwischen 2010 und 2020 stellten die Forschenden im Vergleich zu früheren Studien eine besorgniserregende Vervierfachung der Verhedderungsrate fest. Insbesondere junge Kegelrobben sind betroffen. Meist hatten sich Reste von Fischernetzen um den Hals der Tiere gewickelt. Seehunde dagegen sind eher durch das Verschlucken von Plastikmüll gefährdet. Fünf von neun untersuchten Seehunden hatten Angelschnüre aus Nylon verschluckt. Die Wissenschaftler vermuten, dass sie Angelschnüre mit Beute wie Sandaalen verwechseln.

Immer mehr Strandungen verhedderter Tiere

Während des Untersuchungszeitraums gab es an der niederländischen Nordseeküste 145 Strandungsmeldungen mit verhedderten Tieren. An der Studie beteiligten sich Mitglieder etablierter Strandungsnetzwerke gemeinsam mit den drei großen Robben-Rehabilitationszentren in den Niederlanden: Ecomare, A Seal (Stichting A Seal Centrum voor Zeezoogdierenzorg in Stellendam) und das Robbenzentrum Pieterburen. Zusammen decken die drei Rehabilitationszentren die gesamte niederländische Küste ab. Wobei jedes Zentrum für ein bestimmtes Gebiet zuständig ist.

Überblick Robben-Strandungen mit Verhedderungen im niederländischen Wattenmeer von 2010 bia 2020.
Überblick jährliche und geografische Trends von Funden verhedderter Seehunde (orange) und Kegelrobben (lila) an der niederländischen Küste. Das Schaubild (a) zeigt die jährliche Anzahl von Individuen, gruppiert nach Arten während des elfjährigen Untersuchungszeitraums. Die Karten (b) zeigen den prozentualen Anteil mit Verhedderungen gestrandeter Tiere nach Art für das Festland und die Wattenmeerinseln. © Oceans 2022, 3, 389–400. https://doi.org/10.3390/oceans3030026

In der Mehrzahl hatten sich Kegelrobben (81,4 Prozent) in herumtreibendem Fischereigerät verwickelt. Zu Beginn der Studie war die Zahl der jährlichen Strandungen mit jährlich etwa sieben Meldungen recht stabil. Seit 2017 jedoch stranden im Wattenmeer immer mehr verhedderte Tiere. Bisheriger Höhepunkt war 2019 mit 38 gestrandeten Robben.

Verhedderungen mit Plastikmüll und Häufigkeit aufgeteilt nach Körperstellen von Robben im niederländischen Wattenmeer
Verhedderungen und deren Häufigkeit, aufgeteilt nach Körperstellen und getrennt nach Arten. Am häufigsten sowohl bei Kegelrobbe (gray seal) als auch beim Seehund (harbor seal) sind Verhedderungen im Halsbereich, gefolgt von Ganzkörperverstrickungen. © Oceans 2022, 3, 389–400. https://doi.org/10.3390/oceans3030026

Tödliche Folgen einer Verhedderung

15 der 145 gestrandeten Robben waren bereits tot. Bei 30 noch lebenden gelang es nicht, sie aus ihrer Verhedderung zu befreien (z. B. konnten sie nicht gefangen werden). 41 Tieren konnte man dagegen noch am Fundort helfen. 59 Robben fing man aufgrund ihrer Verletzungen ein und brachte sie in ein Rehabilitationszentrum.

Verteilung der Altersgruppen mit Plastikmüll verhedderter Robben im niederländischen Wattenmeer
Prozentualer Anteil verhedderter Robben im Wattenmeer, verteilt nach Altersgruppen. Am häufigsten betroffen bei beiden Arten sind noch nicht geschlechtsreife Jungtiere (juvenile). Sie sind in der Regel verspielter, neugieriger und wanderlustiger als ältere Tiere. © Oceans 2022, 3, 389–400. https://doi.org/10.3390/oceans3030026

Noch während des Transports starben drei Tiere. Auch für acht weitere gab es keine Rettung. Ihr Gesundheitszustand war derart schlecht, dass sie entweder nach der Ankunft in der Rehabilitationseinrichtung starben oder kurz danach eingeschläfert werden mussten. Todesursächlich waren dabei nicht immer die von der Verhedderung verursachten Verletzungen. In einigen Fällen stellten Tierärzte eine Begleiterkrankung (z. B. eine parasitäre Lungenentzündung) als die wahrscheinlichste Todesursache fest.

Erfolgreiche Rehabilitation

48 Robben konnte man nach der Rehabilitationsphase in gutem Gesundheitszustand wieder in die freie Wildbahn entlassen. Insgesamt lag die Überlebensrate der in die Rehabilitation aufgenommenen Tiere bei 85,7 Prozent.

Wissenschaftler in Sorge wegen vieler toter Robben in der Nordsee

In der rapiden Zunahme von Meldungen über verhedderte Robben im Wattenmeer sieht das niederländische Forscherteam langfristig eine erhebliche Gefahr für das Überleben der betroffenen Populationen. Insbesondere in Kombination mit weiteren anthropogenen Umweltgefahren wie Einleitungen von Umweltgiften, Lärm durch intensiven Schiffsverkehr und Fischereifahrzeuge oder direkte Interaktion mit Fischereinetzen (Beifang). Sie sehen es daher als dringend erforderlich an, öffentliche Programme und staatliche Maßnahmen zum Schutz der Meeresumwelt speziell vor weiteren Einträgen von verlorenem Fischereigerät ins Meer zu entwickeln.

Prozentuale Anteile der Herkunft des Plastikmülls in dem sich Wattenmeer-Robben verhedderten.

Prozentuale Anteile der Herkunft der Kunststoffabfälle: Schifffahrt/Fischerei (83,4 %): Fischernetze, Seile, Angelschnüre, Angelhaken etc. Von den Meeresabfällen dieser Kategorie waren Fischernetze (88,4 %) am häufigsten. Bei 12 % der gemeldeten Verhedderungen stammte der Plastikmüll aus anderen Quellen (wie Frisbee, Kleidung, Kartoffelnetz, Gummiband, Plane, Verpackungen usw.). Einige Tiere (5,5 %) hatten sich auch mehrfach verheddert. © Oceans 2022, 3, 389–400. https://doi.org/10.3390/oceans3030026

Problembewusstsein stärken

Weiterhin sollte man – gemäß der jüngsten Empfehlung des Wissenschaftlichen Beirats für die Rehabilitation von Robben in den Niederlanden –, verletzten Robben helfen oder sie rehabilitieren, wenn die Verletzungen durch direkte menschliche Aktivitäten verursacht wurden. Dies würde auch das Bewusstsein in der Öffentlichkeit schärfen, wie sehr einheimische Meerestiere durch Umweltmüll geschädigt werden.

Die Situation ist fragil. So wagt das niederländische Forscherteam keine Festlegung, ob die bisherigen Bemühungen genügen, um den Erhalt gesunder Robben-Populationen in der Nordsee und im Wattenmeer sicherzustellen.

  1. Haelters, J., Kerckhof, F., & Brasseur, S. M. J. M. (2022). High prevalence of head and neck lesions in stranded seals: cause of death? Lutra65(2), 271-283. https://www.zoogdiervereniging.nl/sites/default/files/2023-05/lutra_652_haelters_et_al_2022.pdf ↩︎
  2. Salazar-Casals, A.; de Reus, K.; Greskewitz, N.; Havermans, J.; Geut, M.; Villanueva, S.; Rubio-Garcia, A. Increased Incidence of Entanglements and Ingested Marine Debris in Dutch Seals from 2010 to 2020. Oceans 2022, 3, 389–400. https://doi.org/10.3390/oceans3030026 ↩︎

Titelfoto: Kegelrobbe mit Resten eines Netzes. © Alicia Chan/pixabay


Weiterführende Informationen

Grafik: Seas At Risk
Seas At Risk gratefully acknowledges funding support from EU LIFE Programme. The content is the sole responsibility of Seas At Risk. It should not be regarded as reflecting the position of the funder.