Immer weniger Nordkaper

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Nordatlantische Glattwale (Eubalaena glacialis) gehören zu den am stärksten gefährdeten Großwalarten. Im Oktober 2022 lag die Zahl der auch Atlantischer Nordkaper genannten Art, nach vorläufigen Schätzungen der Fischereiabteilung der Wetter- und Ozeanografiebehörde der USA (NOAA Fisheries), weiterhin bei unter 350 Individuen mit gerade noch 70 reproduktionsfähigen Weibchen (2020 waren es 94). Das ist der niedrigste Stand seit über 20 Jahren. Exemplarisch für den unaufhaltsamen Niedergang dieser durch den industriellen Walfang an den Rand des Aussterbens gejagten Bartenwale steht das Schicksal des Nordkaper-Männchens „Snake Eyes“. Er starb im September 2019 im Alter von nur 40 Jahren vor der Küste von Long Island (New York).

Wenn ein Großer geht …

Am 16. September 2019 erreicht die Atlantic Marine Conservation Society (AMSEAS) die Nachricht, dass ein toter Nordatlantischer Glattwal etwa 6 Kilometer südlich vor Long Island (New York) im Meer treibt.

Das Letzte, was man jetzt noch für den Riesen tun konnte, war festzustellen, weshalb er sterben musste. Nach der Bergung untersuchte ein Team aus siebzehn Wissenschaftlern und ausgebildeten Freiwilligen unter der Leitung von AMSEAS den Walkörper. Schnell war klar, es handelt sich um den Nordkaper „Snake Eyes, Katalog #1226“. Er war leicht an zwei leuchtend weißen Narben auf der Vorderseite seines Kopfes zu erkennen. Das sah aus, als hätte er ein zusätzliches Paar sehr großer Augen. Im Anschluss an die Sektion begrub man „Snake Eyes“.

Ein Nordatalantischer Glattwal oder Nordkaper. Foto: NOAA Fisheries

Nordatlantische Glattwale gehen es gemütlich an. Beim Verzehr ihrer Lieblingsmahlzeit, winzigen Ruderfußkrebsen, sperren sie ihr Maul weit auf. Dann schwimmen sie gemächlich hindurch. Dabei sieben sie die Krebschen mit ihren Barten aus dem Wasser. Foto: NOAA Fisheries

US-Biologen kannten „Snake Eyes“ gut. Seit vielen Jahren ist man sich immer wieder begegnet. Zuletzt am 6. August 2019 im Sankt-Lorenz-Golf. „Snake Eyes“ war im „besten Alter“. Denn die Giganten können gut und gerne über 70 Jahre alt werden. Doch das gelingt kaum noch einem Nordatlantischen Glattwal. Obwohl sie streng geschützt sind. Obwohl sie seit vielen Jahren nicht mehr bejagt werden.

Todesursache: Befestigungsleinen von Hummerreusen

Der vier Wochen später vorliegende Nekropsiebericht schließt eine Schiffskollision oder eine Krankheit als Todesursache aus. Wieder einmal bezahlte ein Nordkaper die Begegnung mit Befestigungsleinen von Hummerfallen mit dem Leben.

Mit den reißfesten Leinen befestigen und markieren Hummerfischer am Meeresgrund ausgelegten Fanggeräte mit an der Meeresoberfläche dümpelnden Bojen. Nordatlantische Glattwale wandern sehr nah an der nordamerikanischen Küste. Dadurch treffen sie fast zwangsläufig auf die für sie nicht gut erkennbaren Leinen. Das ist fatal. Sie verheddern sich. Sie winden und drehen sich. Doch allzu oft gelingt es ihnen nicht, sich zu befreien.

Rettungsaktion für einen Nordkaper (Nordatlantischer Glattwal), der sich in Befestigungsleinen für Hummerreusen verheddert hat.

Ein fünfjähriger Nordkaper wird befreit. Das Campobello-Walrettungsteam entfernt Befestigungsleinen von Hummer-Reusen und Angelschnüre; Sankt-Lorenz-Golf, Kanada, 11. Juli 2019. Foto: NOAA Fisheries

Ein Martyrium beginnt: Über Wochen und Monate schleppt so ein verhedderter Nordkaper Leine, Hummerfalle und Boje hinter sich her. Immer tiefer schneiden sich die Leinen ins Fleisch. Immer schwerer wird es, voranzukommen, Nahrung aufzunehmen, abzutauchen. Es ist eine einzige Qual. Falls der Wal nicht das Glück hat, von einem der mobilen US-Walrettungsteams gefunden und von den Leinen befreit zu werden, kommt der Tod schließlich als Erlösung. Das also war „Snake Eyes“ Schicksal.

Unusual Mortality Event (UME) für Nordatlantische Glattwale

Hauptursachen für den seit Jahren unaufhaltbaren Rückgang sind Schiffskollisionen und das Verheddern in Fischereileinen. Da es nur noch so wenige Nordkaper gibt, tragen mittlerweile 86 Prozent aller Nordatlantischen Glattwale Spuren von Verhedderungen.

Schiffe müssen langsamer fahren, um Schiffskollisionen für Nordkaper zu vermeiden.

Vor der US-Küste gibt es für Schiffe von über 20 m Länge zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Regionen Langsamfahr- oder Umfahrensgebote. Damit sollen Kollisionen mit Nordkapern vermieden werden. Dennoch gelingt es nicht, dass sich der Bestand vermehrt. Quelle: NOAA

Zu hohe Verluste

2018 kam nicht ein einziger Nordatlantischer Glattwal zur Welt. Dagegen weiß man für den Zeitraum Juni 2017 bis 2019 von mindestens 30 toten Walen in US- und kanadischen Gewässern. Darunter 17 weibliche Tiere. Zehn weitere, die mit schwerwiegenden Verletzungen gesichtet wurden, gelten als tot. Seit 2017 verlor die Art mindestens 20 Prozent ihres Bestands durch unnatürliche Todesursachen. Deshalb erklärte NOAA Fisheries einen „unusual mortality event“ (UME). Das ist eine Art Notstand aufgrund einer ungewöhnlich hohen Anzahl von Todesfällen in einer Meeressäugerpopulation. Ein UME erfordert unmittelbare Maßnahmen.

Forscher gehen davon aus, dass die stark geschrumpfte Population höchstens einen Verlust von 0,9 Tieren pro Jahr wegen menschlicher Aktivitäten verkraften kann. Neue Berechnungen der am UME beteiligten NOAA-Wissenschaftler zeigen, dass seit 2017 bis Oktober 2022 jedoch mindestens 15 Nordkaper pro Jahr starben (Schiffskollisionen, schlechter Gesundheitszustand, Verstrickung und daraus folgende Verletzungen und Erkrankungen).

Großwale am Abgrung: Grafik zum abnehmenden Bestand der Nordatlantischen Glattwale - Nordkaper.
Entwicklung des Bestands beim Nordatlantischen Glattwal / Nordkaper von 1990 bis 2019. Grafik: NOAA Fisheries

Jedes Kalb der kleinen Population ist bekannt

NOAA-Wissenschaftler registrieren penibel jedes Nordkaperkalb. Im Winter 2019/2020 gab es zehn Neugeburten. 2021 waren es dann 18. Doch auch das war unterdurchschnittlich. Denn im vorigen Jahrzehnt gab es im Durchschnitt 23 Kälber pro Jahr. 2021 starben fünf Kälber – mindestens. Denn neue Studien zeigen, dass lediglich 36 Prozent aller Todesfälle entdeckt werden.

Nordatlantischer Glattwal (Kalb).

Dieses männliche Nordkaper-Kalb starb Anfang Juli 2020 vor der Küste von New Jersey (USA) nach einer Schiffskollision. Der kleine Wal wurde nur knapp ein halbes Jahr alt. Es war schon einmal von einem Schiff überfahren worden. Denn sein Körper wies mehrere verheilende Schnittwunden an Kopf und Brust auf. Auf dem Kopf sieht man die Narben. Foto: Center for Coastal Studies, NMFS Permit # 18786-04


Nordkaper – die richtigen Wale

Zeichnung Nordkaper von NOAA Fisheries.
Grafik: NOAA Fisheries

Einst waren Glattwale die bevorzugte Beute von Walfängern. Denn es war nicht schwer, diese küstennah und langsam schwimmenden Großwale zu jagen. Daher auch der englische Name „right whale“, der richtige Wal zum Töten! Zudem gehen sie nicht unter, wenn sie tot sind. Denn bei Glattwalen macht die bei Walfängern begehrte Speckschicht rund 40 Prozent des Körpergewichts aus – das schafft kaum eine andere Walart.

Nachdem sie nahezu ausgerottet waren, stellte man sie bereits 1937 unter Schutz. Doch einige Walfangländer, wie Japan und Russland, kümmerte das wenig. Sie machten noch bis in die 1960er-Jahre illegal weiter.

Seit Juli 2020 sind Nordkaper auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion (IUCN) als „vom Aussterben bedroht“ gelistet. Eine Stufe vor „in der Natur ausgestorben“.

Artensteckbrief Nordatlantische Glattwale

Wo leben Nordatlantische Glattwale?

Vor Beginn des industrialisierten Walfangs waren Nordatlantische Glattwale im gesamten Nordatlantik weit verbreitet. Heute jedoch findet man sie nur noch im westlichen Nordatlantik. Vornehmlich an der Ostküste der USA und Kanadas. Von ihren nördlichen Nahrungsgründen (Golf von Maine, Sankt-Lorenz-Golf) wandern sie dicht an der Küste zu den im Südosten der USA liegenden Fortpflanzungsgebieten. Nur vereinzelt schwimmen sie noch in europäische Gewässer des Nordatlantiks (Island, Norwegen, England, Frankreich, Spanien, Azoren).

Wie sieht ein Nordkaper aus?

Glattwale besitzen keine Rückenfinne. Ihre Brustflipper sind breit und paddelförmig. Die Fluke ist tief eingekerbt und hat einen glatten Rand. Ihr Kopf ist riesig. Er macht fast ein Drittel ihrer Körperlänge aus. Bis zu 270 etwa 2,80 m lange Barten befinden sich auf jeder Seite der Oberkiefer. Dadurch ist ihr Mund stark gebogen. Vor allem auf der Kopfoberseite finden sich zahlreiche verhornte Schwielen, auf denen Walläuse (kleine Krebstiere) leben. An der Form dieser Schwielen sowie an Narben auf dem Körper lassen sich die Wale individuell erkennen. Nordkaper erzeugen beim Ausatmen eine charakteristische v-förmige Fontäne.

Wie groß ist ein Nordkaper?

Ausgewachsen sind Nordatlantische Glattwale über 18 m lang und über 63 Tonnen schwer.

Wie schnell schwimmen sie?

Sehr gemächlich. Ihre Durchschnittsgeschwindigkeit liegt bei 8 km/h. Normalerweise sind sie einzeln unterwegs. Man trifft jedoch auch Gruppen von bis zu zwölf Individuen.

Wie viele Nordkaper gibt es noch?

Im Oktober 2021 schätzte das North Atlantic Right Whale Consortium (NARWC) die Zahl erwachsener Individuen auf 336 Exemplare und damit auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren.

Südkaper und Pazifischer Nordkaper

Neben dem Atlantischen Nordkaper gibt es zwei weitere Glattwalarten: den Südlichen Glattwal oder Südkaper (Eubalaena australis) und den Pazifischen Nordkaper (Eubalaena japonica).

Für Letzteren ist die Überlebenssituation ähnlich kritisch wie bei seinem atlantischen Cousin. Einst im Nordwest- und Nordostpazifik verbreitet, ist er heute nur noch im Ochotskischen Meer und im östlichen Beringmeer zu sehen. Laut der Roten Liste der IUCN ist die Art bedroht, mit unbekannter Populationsentwicklung. Die Subpopulation im Nordostpazifik (Beringmeer und Golf von Alaska) steht mit vielleicht noch 10 bis 20 erwachsenen Exemplaren unmittelbar vor dem Aussterben.

Südlicher Glattwal – Südkaper

Der Südkaper bewohnt die Meere der Südhalbkugel bis ca. zum 55. Breitengrad. Mit rund 13.600 Individuen bildet er die größte Population der drei Arten. Laut der Roten Liste der IUCN gelten Südliche Glattwale derzeit als nicht bedroht.

Im Juli 2021 beobachteten Mitarbeiter von Ecosul Turismo1 aus Santa Luzia etwa 6,5 Kilometer vor der Küste von Ilhéus im Bundesstaat Bahia im Nordosten Brasiliens ein Mutter-Kalb-Paar von Südlichen Glattwalen. Die Beobachter schätzen das Alter des Jungtieres auf etwa 22 Tage. Das war eine ungewöhnliche Beobachtung. Denn Mutter-Kalb-Paare von Südlichen Glattwalen halten sich an der brasilianischen Küste eher in flachen, küstennahen Bereichen und vor allem nicht soweit nördlich auf. Im brasilianischen Bundesstaat Bahia gab es bis dahin nur wenige Beobachtungen dieser Art.

In Brasilien gelten Südliche Glattwale als bedrohte Art. Es gibt schätzungsweise noch 555 Exemplare. Von diesen sind etwa 200 fortpflanzungsfähige Weibchen. Ihr Fortpflanzungsgebiet an der brasilianischen Küste liegt etwa 350 km südlich von Ilhéus bei der Abrolhos-Bank. Seit 1990 beobachtet man Südliche Glattwale hier regelmäßig.

1 Foucart T, De Moura Lima A. Short Communication: Rare record of a southern right whale (Eubalaena australis Desmoulins, 1822) with calf in Ilhéus, Bahia, northeastern Brazil. JCRM [Internet]. 2023 Feb. 21 [cited 2023 Feb. 28];24(1):7-11. Available from: https://journal.iwc.int/index.php/jcrm/article/view/367

Update: erweiterter und überarbeiteter Beitrag. Mit neuem Datum wieder veröffentlicht.

Titelfoto: © NOAA Fisheries


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