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Red Tide – Rote Flut, so nennt man in den USA die gefürchteten, hochtoxischen Algenblüten. Denn bei einer Red Tide treibt auf der Meeresoberfläche eine rötliche Schicht. Gebildet von Milliarden winziger, einzelliger Dinoflagellaten der Art Karenia brevis. Und Giftgas weht über das Meer bis an Land. Im Meer sterben Millionen Fische. Aber auch größere Meerestiere wie Delfine, Manatis, Haie oder Meeresschildkröten haben kaum eine Chance. An Land sind Menschen, die das Gas einatmen, in Gefahr. Selten nur werden die Folgen der industrialisierten Landwirtschaft für die Meeresumwelt so deutlich und so tragisch sicht- und greifbar wie bei einer Red Tide. Denn Auslöser der Roten Flut sind Nährstoffe aus der übermäßigen Düngung landwirtschaftlicher Flächen. Doch auch von Rasenflächen oder aus Kläranlagen gelangt zu viel unerwünschter Dünger ins Meer. Deshalb kommt die Rote Flut immer wieder. Wie an der Küste von Florida.
Inhaltsverzeichnis
Gefährliche Kettenreaktion
Eine Rote Flut entsteht in drei Schritten. Grundvoraussetzung ist eine massive Überdüngung mit Stickstoff und Phosphor aus landwirtschaftlichen Abwässern im Meerwasser. Anschließend kommt es zu einer explosionsartigen Vermehrung von Cyanobakterien der Gattung Trichodesmium. Denn mithilfe des Enzyms Nitrogenase bilden diese primitiven Blaualgen aus im Meerwasser vorhandenem Stickstoff organische Verbindungen. Erst dann betritt mit Karenia brevis der unheimliche Hauptakteur die Bühne.
Giftige, einzellige Kieselalgen

Red Tide vor Sarasota. Quelle: Sarasota Dolphin Research Program – Facebookseite
Denn die jetzt reichlich im Meerwasser vorhandenen organischen Verbindungen sind ein gefundenes Fressen für zum normalen Phytoplankton gehörende einzellige Dinoflagellaten der Kieselalgenart Karenia brevis. In der Folge vermehren sich die Winzlinge explosionsartig und verursachen eine Red Tide. Sie kann sich auf mehreren Quadratkilometern Meeresoberfläche ausbreiten und sehr lange dauern.
Giftgas aus dem Meer
In einem Liter Meerwasser leben dann mehrere Millionen Dinoflagellaten. Doch sie färben nicht nur die Wasseroberfläche rot. Wie nach einem militärischen Giftgasangriff wehen über den rötlichen Teppichen von den Winzlingen emittierte Neurotoxine. Und die haben es in sich. Fische, Delfine, Wale oder Seekühe, die in eine Red Tide geraten, sterben. Unmittelbar oder an den Spätfolgen, wenn die Rote Flut längst vorbei ist. So verendeten bei einer einzigen Algenpest vor der Küste von Florida mehrere Millionen Fische und Hunderte Seekühe.
Nervengift auf dem Teller
An Land getriebene Giftgaswolken lösen bei Menschen schwere Schleimhautreizungen und Atemprobleme aus. Zusätzlich kann der Verzehr von Fischen, die das Nervengift aufgenommen haben, zu Lähmungen und Gedächtnisstörungen führen.
Natürliche Ursachen – Der Tod kommt aus der Sahara
Auch gewaltige Staubwolken aus der Sahara können Auslöser einer Roten Flut sein. Denn die bei ihrer Reise um den Globus voran getriebenen Sandkörnchen enthalten Eisen. Dies zeigte eine von der NASA (National Aeronautics and Space Administration) finanzierte Studie des College of Marine Science der Universität Florida. Und immer wenn eine der riesigen Staubwolken aus der Sahara bei Ostwind im Golf von Mexiko vor der Küste Floridas im Meer niedergeht, steigt dort die Eisenkonzentration an. Damit zünden die Sahara-Staubwolken die tödliche Kettenreaktion aus Vermehrung von Trichodesmium und nachfolgend Karenia brevis.
Saharastaub löst gewaltige Algenblüte von Tampa Bay bis Fort Myers aus
Bei ihrer Studie setzten die Wissenschaftler Boden- und NASA-Satellitenmessungen ein. So konnten sie den Weg einer Staubwolke verfolgen, die am 17. Juni 1999 von Afrika aus Richtung Osten trieb. Bereits am 1. Juli hatte sie West-Florida erreicht. Im Oktober dann war dann der Gehalt organischer Stickstoffverbindungen im Meerwasser um 300 Prozent gestiegen. Anschließend entwickelte sich eine gewaltige Algenblüte. Sie erstreckte sich über fast 13.000 km² von Tampa Bay bis nach Fort Myers.
Die längste Rote Flut aller Zeiten
Die längste Red Tide, die jemals im Golf von Mexiko wütete, dauerte 16 Monate. Sie begann im Oktober 2017 und endete Anfang 2019. Doch bis in den Juni 2019 hinein dokumentierte die nationale Wetter- und Ozeanografiebehörde der Vereinigten Staaten (NOAA) ungewöhnlich viele tote Delfine entlang der Südwestküste von Florida. Ihr Tod wird in unmittelbarem Zusammenhang mit der abgeebbten Roten Flut gebracht. Man nimmt an, dass ihnen vergiftete Fische oder Blaukrabben zum Verhängnis werden. Die Zahl der toten Delfine sei beispiellos, heißt es seitens der NOAA.

Opfer einer Red Tide: Untersuchung eines gestrandeten Großen Tümmlers. Quelle: NOAA – Mote Marine Laboratory
Giftmischer in Nord- und Ostsee
Unter den mehr als 10 000 bekannten Algenarten der Weltmeere kennt man etwa 100, die toxische Verbindungen produzieren. Damit sind die Giftmischer zwar klar in der Minderheit. Doch sie profitieren in zunehmendem Maße von der Überdüngung der Küsten.
Nervengifte absondernde Algen gibt es auch bei uns in Nord- und Ostsee (Blaualgen / Cyanostämme). Massenhaftes Auftreten von Rotalgen und andere Algenarten sorgen zudem in der Ostsee regelmäßig für die Ausbildung sogenannter sauerstoffarmer Todeszonen. So bedeckten Blaualgen im Sommer 2010 in der Ostsee eine Fläche, die in etwa der Landfläche ganz Deutschlands entsprach. Für Deutschland gibt es ein Algenfrüherkennungssystem (AlgFES) mit dem regelmäßig aktualisierten „Algenreport“.
Titelfoto: In einer Roten Flut verendeter Riesenzackenbarsch von Sarah Frias-Torres/Marine Photobank