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Seit 2020 kommt es vor der iberischen Küste und in der Straße von Gibraltar immer wieder zu Orca-Angriffen auf Segelboote. Nun sank erneut ein Segelboot vor der portugiesischen Atlantikküste, nachdem Orcas es beschädigt hatten. Die vierköpfige Crew blieb zum Glück unverletzt. Es ist das zweite Mal, dass ein Segelboot nach einem derartigen „Zusammentreffen“ sank.
Inhaltsverzeichnis
- Mayday
- Im Juli 2020 begannen die Orca-Angriffe
- Warum diese Orca-Angriffe? Mögliche Hintergründe
- Verhaltenstipps: Wie können sich Segler schützen?
- Sicherheitsprotokolle für Segler bei Orca-Angriffen
- Maßnahmen der spanischen Regierung gegen Orca-Angriffe
- Iberische Orcas
- Indische Grindwale greifen ein Segelboot an
Mayday
Am Morgen des 1. November 2022 kam es zu einer „angeblichen Interaktion mit Orcas etwa 14 Seemeilen (ca. 25 Kilometer) westlich des Hafens von Viana do Castelo“, wie die portugiesische Schifffahrtsbehörde Autoridade Marítima Nacional mitteilte. Die vier Besatzungsmitglieder des unter französischer Flagge fahrenden Segelboots blieben zum Glück unverletzt. Sie retteten sich auf ein in der Nähe befindliches Segelboot. Ihr Boot jedoch war leckgeschlagen und sank.
Es ist bereits das zweite nach einem direkten „Zusammentreffen“ mit den großen Delfinen gesunkene Segelboot. Der erste Vorfall ereignete sich am 30. Juli 2022 rund 11 km vor dem Fischerdorf Sines in Portugal. Auch die fünfköpfige portugiesische Crew hatte Glück. Sie brachte sich nach dem Orca-Angriff auf einem Rettungsfloß in Sicherheit. Dann nahm sie ein Fischerboot auf, wie die portugiesische Marine berichtete.
Im Juli 2020 begannen die Orca-Angriffe
Seit etwa Mitte 2020 kommt es in der Straße von Gibraltar und an der iberischen Atlantikküste bis nach Galicien im Norden immer wieder zu Orca-Angriffen auf Boote. Größtenteils sind Segelboote unter 15 m Länge betroffen. Das berichten Wissenschaftler der Arbeitsgruppe Iberian Orca (GTOA). Nur selten werden dagegen Motor- oder Fischerboote Ziel des rätselhaften Verhaltens der auch Schwertwale genannten Meeressäuger.
Das Team von Iberian Orca befasst sich bereits seit Längerem mit den sogenannten Gibraltar-Orcas. Nach den ersten Vorfällen im Juli 2020 registrierten sie 2020 insgesamt 51 Interaktionen. 2021 waren es schon 185. Dieses Jahr gab es bislang – Stand Oktober 2022 – rund 180 Interaktionen. Diese werden von den Experten auf einer Onlinekarte erfasst.
Seit Juli 2020 bis Oktober 2022 kam es zwischen der marokkanischen Küste und der französischen Bretagne nach Auskunft von GTOA zu insgesamt 443 Begegnungen zwischen Orcas und Segelschiffen. Dabei wurden 19,6 Prozent der betroffenen Boote so schwer beschädigt, dass sie abgeschleppt werden mussten.
Die Schwertwale gehen dabei gezielt ans Ruder. Sie beißen jedoch nicht hinein, sondern rammen es, wie Analysen der GTOA-Arbeitsgruppe zeigten.

Warum diese Orca-Angriffe? Mögliche Hintergründe
Warum haben es die intelligenten Meeressäuger auf Segelboote, meist unter 15 m Länge, abgesehen? Ausgerechnet Segelboote, möchte man sagen, sind sie doch die umweltfreundlichste Art der Fortbewegung auf dem Wasser.
Hinweise auf aggressives Verhalten sehen die Forschenden nicht. Sie sprechen daher grundsätzlich auch nicht von „Angriffen“, sondern von Interaktionen. Mögliche Ursachen für das atypische Verhalten könnten Nahrungskonkurrenz mit Fischern oder zu intensive Whalewatching-Aktivitäten sein. Vielleicht war ein Konflikt mit Fischern der Auslöser: Diese Schwertwale bedienen sich sehr zum Unmut der Fischer gerne an den an Langleinen geköderten Thunfischen.
Kulturelle Entwicklung des „Bootestoppens“ bei den Gibraltar-Orcas?
Wie es aussieht, lernt mittlerweile auch der Nachwuchs dieses „Störverhalten“ von den erwachsenen Tieren. Mehrmals waren Jungtiere während Orca-Angriffen dabei und sahen den Erwachsenen zu. Damit könnte sich diese weltweit einzigartige Verhaltensweise in der Population manifestieren und über viele Jahre fortbestehen.
„Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit einer kulturellen Entwicklung zu tun haben. Eine Kultur, die darin besteht, bestimmte Boote zu stoppen. Sie wissen genau, was sie dafür machen müssen. Es ist eine mehr als erstaunliche und faszinierende Intelligenzleistung und gleichzeitig ein Dilemma“, sagt der Biologe Ulrich Karlowski von der Deutschen Stiftung Meeresschutz.
„Das Ganze hat sich anscheinend verselbstständigt. Der ursprüngliche Auslöser spielt wahrscheinlich keine Rolle mehr. Sie machen das, weil sie es können und weil es ihnen in irgendeiner Form Freude bereitet. Vielleicht trainieren sie mit diesen mehr als ungewöhnlichen Aktionen auch den sozialen Zusammenhalt oder es sind Koordinationsübungen, ähnlich wie beim Fußballtraining in Kleingruppen“, erklärt Karlowski. „Es ist unbedingt notwendig, nicht invasive Lösungen zu finden, damit Segler Begegnungen mit den vom Aussterben bedrohten Gibraltar-Orcas nicht mehr fürchten müssen“.
Wenn erlernte Verhaltensweisen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, spricht man von der Entwicklung einer Kultur.
Verhaltenstipps: Wie können sich Segler schützen?
Die GTOA-Experten haben ein Sicherheitsprotokoll erstellt, das bei einem Orca-Angriff unbedingt eingehalten werden sollte. Vor allen Dingen: Motor und Autopilot aus, Steuerrad nicht fixieren – soweit Seegang und Wetterbedingungen dies zulassen.
Zudem veröffentlichen sie eine „Ampelkarte“, auf der sowohl „sichere“ Gebiete als auch solche mit möglichen Orca-Begegnungen ersichtlich sind. Es ist keine offizielle Karte, sie erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Die Informationen beruhen auf den Angaben, die Segler zur Verfügung stellen.
Sie weisen auch darauf hin, dass vorsichtiges Rückwärtsfahren (2-3 Knoten maximal) in portugiesischen Gewässern inzwischen gestattet ist. In spanischen dagegen bleibt es bislang weiterhin verboten.
Durch den Wegfall bestimmter Reize, wie Geschwindigkeit, Geräusche, hektische Bewegungen an Bord (Wegscheuchen, Schreien), sollen die Orcas ihr Interesse am Objekt verlieren. Zudem sei es ratsam, während eines Orca-Angriffs an Bord die Ruhe zu bewahren (was in einer derartigen Situation natürlich leichter gesagt als getan ist). Denn die schlauen Meeressäuger beobachten auch die Reaktionen von Menschen, da sind sich Forschende sicher.
Verboten ist schnelles Rückwärtsfahren mit abrupten Richtungswechseln, ebenso der Einsatz von akustischen Vergrämern (Pingern).
Sicherheitsprotokolle für Segler bei Orca-Angriffen
Interaktionen Orcas-Boote ↗
Iberian Orca veröffentlicht Karten, die zeigen, wo es zu Interaktionen gekommen ist
Sicherheitsprotokoll für Segler ↗
erstellt von der GTOA
Sicherheitsprotokoll für Segler ↗
vom britischen Seglerverband Cruising Association
Maßnahmen der spanischen Regierung gegen Orca-Angriffe
Das spanische Umweltministerium (MITECO) hat inzwischen ein Pilotprojekt gestartet, um Möglichkeiten zur Prävention und Reduzierung der Orca-Aktionen zu erforschen. Es ist unter anderem geplant, sechs Orcas mit einem Sender auszustatten.
Die GTOA fordert die Regierung zudem auf, Konzepte zu erstellen, um Bootsbesitzern die durch Orca-Angriffe entstandenen Schäden zu ersetzen.

Mithilfe bei Orca-Angriffen
Der britische Seglerverband Cruising Association kooperiert mit den GTOA-Forschenden und bittet um Mithilfe. Segler sind aufgerufen, mithilfe eines Fragebogens ihre Fahrt in dem betroffenen Gebiet zu beschreiben. Dazu gehören auch Fahrten, die ohne Orca-Angriffe oder -Interaktionen verliefen.
Iberische Orcas
Es handelt sich bei diesen „angriffslustigen“ Schwertwalen um eine Subpopulation, die sich von anderen Subpopulationen des Nordostatlantiks unterscheidet. Ihr offizieller Name lautet: Orcas von der Straße von Gibraltar und dem Golf von Cádiz. Diese aus nur etwa 50 Tieren bestehende Subpopulation ist laut Roter Liste der Weltnaturschutzunion IUCN vom Aussterben bedroht und steht unter strengem Schutz.

Ihre Hauptbeute sind Rote Thunfische (Thunnus thynnus), die von Juni bis August zum Laichen in die Straße von Gibraltar und ins westliche Mittelmeer ziehen.
Laut Orca Iberica folgen die Orcas dem Thunfisch auf seinem Weg ins Mittelmeer bis in die Straße von Gibraltar. Und sie ziehen wieder nach Norden, mitunter bis in die Biskaya, wenn die Thunfische das Mittelmeer verlassen.
Iberischer Orca an der holländischen Küste
Mitte Oktober 2022 starb ein Orca nach einer Strandung an der südholländischen Küste. Er war schwer krank, wie die Obduktion an der Uni Utrecht ergab.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das 5,5 m große Tier ein etwa 20 Jahre altes, aus iberischen Gewässern bekanntes Weibchen namens Gala war. Die spanische Organisation Proyecto ORCA katalogisiert die Schwertwale in ihren Gewässern per Fotoidentifikation und erkannte Gala anhand der Form der Finne und von Markierungen. Das Weibchen soll keinen Kontakt mit Fischern oder Segelbooten gehabt haben. In den vergangenen drei Jahren sei sie auch nicht in spanischen Gewässern gesichtet worden. Es ist das erste Mal, dass ein Mitglied der iberischen Subpopulation so weit nördlich dokumentiert wurde.
Indische Grindwale greifen ein Segelboot an
Nicht nur Orcas interessieren sich für Segelboote. Am 21. Februar 2022 gab es 800 km vor den Kapverdischen Inseln eine unheimliche Begegnung zwischen Indischen Grindwalen (Globicephala macrorhynchus) und einem Segelboot, das auf dem Weg nach Französisch-Guyana war, wie französische Medien berichteten. Es dauerte drei Tage. Dann zogen die Meeressäuger ab, die war Crew in Sicherheit.

Die auch als Pilotwale bekannten Grindwale sind nach dem Orca mit etwa 7 m Länge die zweitgrößten ozeanischen Delfine. © Wayne Hoggard/NOAA
Im Gegensatz zu den Angriffen der Orcas rammten die Grindwale das Segelboot vor den Kapverden jedoch direkt. Immer wieder warfen die mächtigen Meeressäuger ihren Körper gegen den Rumpf, bespritzten die vierköpfige Crew. Diese versuchte vergeblich, die Tiere u. a. mit Musik zu vertreiben.
Am Ende hatte der Sperrholzrumpf des Bootes einen 30 cm langen Riss. Zum Glück gelang es der Crew, das Leck abzudichten. Erst nach drei Tagen ließen die Tiere ab und zogen weiter.
Zufällig befanden sich drei Umweltwissenschaftler an Bord. Eine ihrer Vermutungen: Das aggressive Verhalten könnte auf die intensive industrielle Fischerei vor der afrikanischen Atlantikküste zurückgehen. Der Lebensraum dieser Delfinart überschneidet sich mit dem FAO-Fanggebiet 34 (Mittlerer Ostatlantik). Hier werden vor allem hochpreisige Arten wie Roter Thunfisch, Echter Bonito, Gelbflossenthunfische, aber auch Sardellen (Anchovis) gefischt.
Angriffe von Grindwalen auf Segelboote sind außergewöhnlich. Der Vorfall vor den Kapverden ist wahrscheinlich der erste belastbar dokumentierte Fall.
Wale und Delfine: VerhaltenstippsUpdate: erweiterter und überarbeiteter Beitrag. Mit neuem Datum, wieder veröffentlicht.
Titelbild: Das am 1. November 2022 von Orcas beschädigte Boot ist leckgeschlagen und ging unter. © Portuguese Maritime Authority/Autoridade Maritima Nacional