Orca-Angriffe auf Segelboote

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Seit 2020 kommt es vor der iberischen Atlantikküste und in der Straße von Gibraltar immer wieder zu Interaktionen zwischen Iberischen Orcas und Segelbooten. Im Sommer 2023 erstmals auch im Mittelmeer. Bislang sind mindestens drei Boote nach einem Orca-Angriff gesunken. Menschen kamen in allen Fällen bislang glücklicherweise nicht zu Schaden.

Am 17. August 2023 ereignete sich ein verstörender Vorfall vor Tarifa. Dort hatte eine Segelcrew auf Orcas geschossen, womit ist unklar. Die Rede ist von Böllern oder anderer Pyrotechnik. Da das Ganze von Whalewatchern gefilmt wurde, konnte die spanische Polizei nun erstmals in einem derartigen Fall ermitteln. Dies berichten spanische Medien. Denn obwohl der Einsatz von Böllern oder sonstiger Pyrotechnik ebenso wie der Einsatz von Vergrämern (Pingern) verboten ist, kommen sie immer wieder zum Einsatz. Dies ist in den einschlägigen Foren nachzulesen.

Mayday – gesunkene Boote nach Orca-Angriffen

Am frühen Morgen des 5. Mai 2023 beschädigten Orcas das Segelboot Alboran Champagne vor der südspanischen Atlantikküste vor Barbate so stark, dass das Ruder zerbrach und ein Leck entstand. Die vierköpfige Schweizer Crew konnte zum Glück gerettet werden und sei wohlauf, wie es in der Meldung der spanischen Seenotrettung Salvamento Marítimo hieß. Das Boot ist leider während des Abschleppens kurz vor dem Hafen gesunken, soll aber geborgen werden.

Erst ein paar Monate zuvor, am Morgen des 1. November 2022, kam es nach Informationen der portugiesischen Schifffahrtsbehörde Autoridade Marítima Nacional zu einer Orca-Interaktion etwa 25 Kilometer westlich des Hafens von Viana do Castelo. Die vier Besatzungsmitglieder des unter französischer Flagge fahrenden Segelboots blieben ebenfalls unverletzt. Sie retteten sich auf ein in der Nähe befindliches Segelboot. Ihr leckgeschlagenes Boot sank jedoch.

Der erste Vorfall ereignete sich am 30. Juli 2022, rund 11 km vor dem Fischerdorf Sines in Portugal. Auch hier sank ein Segelboot nach einem direkten „Zusammentreffen“ mit den großen Delfinen. Die fünfköpfige portugiesische Crew konnte sich nach dem Orca-Angriff auf einem Rettungsfloß in Sicherheit bringen. Dann nahm sie ein Fischerboot auf, wie die portugiesische Marine berichtete.

Orca-Angriffe begannen 2020

Seit Juli 2020 kommt es in der Straße von Gibraltar und an der iberischen Atlantikküste bis nach Galicien in Nordspanien immer wieder zu Orca-„Angriffen“ auf Boote. Größtenteils sind Segelboote unter 15 m Länge betroffen. Das berichten Wissenschaftler der Arbeitsgruppe Iberian Orca (GTOA). Nur selten werden dagegen Motor- oder Fischerboote Ziel des rätselhaften Verhaltens der auch Schwertwale genannten Meeressäuger.

Das Team von Iberian Orca befasst sich bereits seit Längerem mit den Iberischen Orcas. Nach den ersten Vorfällen im Juli 2020 registrierten sie in dem Jahr insgesamt 51 Interaktionen. 2021 waren es schon 185. 2022 gab es bis Oktober rund 180 Interaktionen, bis Ende des Jahres dann 207. Die Interaktionen erfasst GTOA auf einer Onlinekarte.

Orca-Angriff vor der iberischen Halbinsel.
Orca-Interaktion vor der iberischen Halbinsel. Foto: © GTOA

Von Juli 2020 bis Oktober 2022 kam es zwischen der marokkanischen Küste und der französischen Bretagne nach Auskunft von GTOA zu insgesamt 443 Orca-Angriffen auf Segelschiffe. Dabei wurden 19,6 Prozent der betroffenen Boote so schwer beschädigt, dass sie abgeschleppt werden mussten.

Der mit der GTOA kooperierende britische Seglerverband British Cruising Association erfasst die Vorfälle: Für 2022 zeigte sich, dass rund 73 Prozent der Boote, deren Crews einen Orca-Angriff meldeten, beschädigt wurden. Davon wiederum circa 25 Prozent so stark, dass sie abgeschleppt werden mussten.

Diese Zahlen besitzen jedoch keine statistische Gültigkeit, da sie lediglich auf den gemeldeten Vorfällen beruhen.

Die Schwertwale zerstören meist gezielt das Ruder, um die Segelschiffe zu stoppen. Sie beißen jedoch nicht hinein, sondern rammen es, wie Analysen der GTOA-Arbeitsgruppe ergaben.

Kein normales Segelboot kann einem Orca-Angriff entkommen.
Orcas sind sehr schnelle, sehr mächtige und sehr intelligente Delfine! Kaum ein Segelboot könnte ihnen davonfahren. Foto: Ministerio de Transportes, Movilidad y Agenda Urbana

Nun auch im Mittelmeer

Orca-Angriffe gab es auch schon an der nordspanischen und französischen Atlantikküste. Diesen Sommer nun ereigneten sich Orca-Interaktionen erstmals im Mittelmeer. Und zwar vor südlich von der spanischen Küstenstadt Marbella und ein weiterer vor Ceuta in der spanischen Enklave an der marokkanischen Küste, wie die britische Cruising Association berichtet.

Warum diese Angriffe? Mögliche Hintergründe

Warum haben es die intelligenten Meeressäuger auf Segelboote, vorwiegend unter 15 m Länge, abgesehen? Ausgerechnet Segelboote, möchte man sagen, sind sie doch die umweltfreundlichste Art der Fortbewegung auf dem Wasser.

Beobachtung von Orcas vor San Juan Islands USA
Orcas gehören zu den Lieblingen beim Whalewatching. Foto: iStock.com/lilly3

Hinweise auf aggressives Verhalten sehen die Forschenden nicht. Sie sprechen daher grundsätzlich auch nicht von „Angriffen“, sondern von Interaktionen. Mögliche Ursachen für das atypische Verhalten könnten Nahrungskonkurrenz mit Fischern oder zu intensive Whalewatching-Aktivitäten sein. Vielleicht war ein Konflikt mit Fischern der Auslöser: Diese Schwertwale bedienen sich sehr zum Unmut der Fischer gerne an den an Langleinen geköderten Thunfischen.

Kulturelle Entwicklung des „Bootestoppens“ bei den Gibraltar-Orcas?

Wie es aussieht, lernt mittlerweile auch der Nachwuchs dieses „Störverhalten“ von den erwachsenen Tieren. Mehrmals waren Jungtiere während Orca-Angriffen dabei und sahen den Erwachsenen zu. Damit könnte sich diese weltweit einzigartige Verhaltensweise in der Population manifestieren und über viele Jahre fortbestehen.

Schiffsverkehr am 13. Mai 2023, Südspanien
Enorme Lärmverschmutzung im Lebensraum der Orcas durch dichten Schiffsverkehr. Auch die Lärmbelastung der Meere führt zu veränderten Verhaltensweisen bei Meerestieren. Momentaufnahme vom Schiffsverkehr am Nachmittag des 13.05.2023 Quelle: Vesselfinder

„Vieles spricht dafür, dass wir es hier mit einer kulturellen Entwicklung zu tun haben. Eine Kultur, die darin besteht, bestimmte Boote zu stoppen. Sie wissen genau, was sie dafür machen müssen. Es ist eine mehr als erstaunliche und faszinierende Intelligenzleistung und gleichzeitig ein Dilemma“, sagt der Biologe Ulrich Karlowski von der Deutschen Stiftung Meeresschutz.

„Das Ganze hat sich anscheinend verselbstständigt. Der ursprüngliche Auslöser spielt wahrscheinlich keine Rolle mehr. Sie machen das, weil sie es können und weil es ihnen in irgendeiner Form Freude bereitet. Vielleicht trainieren sie mit diesen mehr als ungewöhnlichen Aktionen auch den sozialen Zusammenhalt oder es sind Koordinationsübungen, ähnlich wie beim Fußballtraining in Kleingruppen“, erklärt Karlowski. „Es ist unbedingt notwendig, nicht-invasive Lösungen zu finden, damit Segler Begegnungen mit den vom Aussterben bedrohten Gibraltar-Orcas nicht mehr fürchten müssen“.

Wenn erlernte Verhaltensweisen an nachfolgende Generationen weitergegeben werden, spricht man von der Entwicklung einer Kultur.

Verhaltenstipps: Wie können sich Segler vor Orca-Angriffen schützen?

Sowohl die GTOA als auch die Cruising Association haben Sicherheitsprotokolle (siehe nächstes Kapitel) erstellt, die bei einem Orca-Angriff unbedingt eingehalten werden sollten. Unter anderem raten sie dazu, Motor, Autopilot und Echolot auszuschalten sowie das Steuerrad nicht zu fixieren – soweit Seegang und Wetterbedingungen dies zulassen.

Orca-Poster des britischen Seglerverbands für die Aufklärungsarbeit der Orca-Angriffe.
Poster der britischen Cruising Association mit der Bitte, sowohl Vorfälle mit Orcas als auch ereignislose Fahrten in der Straße von Gibraltar und entlang der iberischen Atlantikküste zu melden.

Die GTOA veröffentlicht zudem eine „Ampelkarte“, auf der sowohl „sichere“ Gebiete als auch solche mit möglichen Orca-Begegnungen ersichtlich sind. Es ist keine offizielle Karte, sie erhebt auch keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Die Informationen beruhen auf den Angaben, die Segler zur Verfügung stellen.

Sie weisen auch darauf hin, dass vorsichtiges Rückwärtsfahren (2-3 Knoten maximal) in portugiesischen Gewässern inzwischen gestattet ist. In spanischen dagegen bleibt es bislang weiterhin verboten.

Durch den Wegfall bestimmter Reize, wie Geschwindigkeit, Geräusche, hektische Bewegungen an Bord (Wegscheuchen, Schreien) verlieren die Orcas anscheinend das Interesse am Objekt. Das heißt auch, während eines Orca-Angriffs an Bord möglichst die Ruhe zu bewahren (was in einer derartigen Situation natürlich leichter gesagt als getan ist). Denn die schlauen Meeressäuger beobachten auch die Reaktionen von Menschen, da sind sich Forschende sicher. Und wenn sich nichts tut, dann wird es ihnen wohl zu langweilig …

Verboten ist schnelles Rückwärtsfahren mit abrupten Richtungswechseln, ebenso der Einsatz von akustischen Vergrämern (Pingern).

Sicherheitsprotokolle für Segler bei Orca-Angriffen

Interaktionen Orcas-Boote ↗

Iberian Orca veröffentlicht Karten, die zeigen, wo es zu Interaktionen gekommen ist

Sicherheitsprotokoll für Segler ↗

erstellt von der GTOA

Sicherheitsprotokoll für Segler ↗

vom britischen Seglerverband Cruising Association

Maßnahmen der spanischen Regierung gegen Orca-Angriffe

In der Vergangenheit verhängte die spanische Regierung zweimal (2020, 2021) temporäre Fahrverbote für Segelboote unter 15 m Länge in bestimmten Abschnitten vor der Küste Galiciens bzw. in Nähe der Straße von Gibraltar.

Inzwischen hat das spanische Umweltministerium (MITECO) ein Pilotprojekt gestartet, um Möglichkeiten zur Prävention und Reduzierung der Orca-Angriffe zu erforschen. Es ist unter anderem geplant, sechs Orcas mit einem Sender auszustatten.

Die GTOA forderte die Regierung zudem auf, Konzepte zu erstellen, um Bootsbesitzern die durch Orcas entstandenen Schäden zu ersetzen.

Ein bei einem Orca-Angriff schwer beschädigtes Ruder eines Segelbootes.
Die Orcas haben es meist auf das Ruder abgesehen. Foto: © GTOA

Maßnahmen der portugiesischen Regierung

In Portugal trat am 11. Juli ein Gesetz in Kraft, das die aktive Annäherung an Orcagruppen durch Schiffe des Seetourismus (inkl. Whalewatching-Boote) verbietet. Es gilt bis Ende des Jahres. Zudem soll man sich entfernen, wenn sich Schwertwale dem Boot nähern, um Interaktionen möglichst zu vermeiden.

Außerdem werden in Portugal neue akustische Abschreckgeräte getestet, wie der Nationale Seglerverband Portugal vor einiger Zeit mitteilte.

Mithilfe erbeten

Der britische Seglerverband Cruising Association kooperiert mit den GTOA-Forschenden und bittet um Mithilfe. Segler sind aufgerufen, mithilfe eines Fragebogens ihre Fahrt in dem betroffenen Gebiet zu beschreiben. Dabei ist es wichtig, auch ereignislose Fahrten durch das Gebiet der Iberischen Orcas zu melden, denn nur so können Trends erkannt und Präventionsmaßnahmen ergriffen werden.

Iberische Orcas

Es handelt sich bei den Iberischen Orcas um eine Subpopulation, die sich von anderen Subpopulationen des Nordostatlantiks unterscheidet. Ihr offizieller Name lautet: Orcas von der Straße von Gibraltar und dem Golf von Cádiz. Diese aus nur etwa 50 Tieren bestehende Subpopulation ist laut Roter Liste der Weltnaturschutzunion IUCN vom Aussterben bedroht und steht unter strengem Schutz.

Einzelner Orca.
Orcas sind unverwechselbar. Foto: skeeze/Pixabay

Ihre Hauptbeute sind Rote Thunfische (Thunnus thynnus), die von Juni bis August zum Laichen in die Straße von Gibraltar und ins westliche Mittelmeer ziehen.

Laut GTOA folgen die Iberischen Orcas dem Thunfisch auf seinem Weg ins Mittelmeer bis in die Straße von Gibraltar. Und sie ziehen wieder nach Norden, mitunter bis in die Biskaya, wenn die Thunfische das Mittelmeer verlassen.

Die GLADIS-Orcas

Nicht alle Mitglieder der Iberischen Orcas greifen Segelboote an. Bislang identifizierte das GTOA-Team 15 „angriffslustige“ Individuen mithilfe der Fotoidentifikation. Dabei dienen die Form der Rückenfinne und ihre Markierungen als Erkennungsmerkmal. Von Seglern eingesandte Aufnahmen ermöglichten so den Vergleich mit Aufnahmen aus dem Foto-ID-Katalog und folglich die Identifizierung der betreffenden Tiere. Sie erhielten den Namen GLADIS-Orcas.

Iberischer Orca an der niederländischen Küste

Mitte Oktober 2022 starb ein Orca nach einer Strandung an der südholländischen Küste. Er war schwer krank, wie die Obduktion an der Uni Utrecht ergab.

Im Nachhinein stellte sich heraus, dass das 5,5 m große Tier ein etwa 20 Jahre altes, aus iberischen Gewässern bekanntes Weibchen namens Gala war. Die spanische Organisation Proyecto ORCA katalogisiert die Schwertwale in ihren Gewässern per Fotoidentifikation und erkannte Gala anhand der Form seiner Finne und seiner Markierungen. Das Weibchen soll keinen Kontakt mit Fischern oder Segelbooten gehabt haben. In den vergangenen drei Jahren sei es auch nicht in spanischen Gewässern gesichtet worden. Es ist das erste Mal, dass ein Tier der iberischen Subpopulation so weit nördlich dokumentiert wurde.


Indische Grindwale greifen ein Segelboot an

Nicht nur Orcas interessieren sich für Segelboote. Am 21. Februar 2022 gab es 800 km vor den Kapverdischen Inseln eine unheimliche Begegnung zwischen Indischen Grindwalen (Globicephala macrorhynchus) und einem Segelboot, das auf dem Weg nach Französisch-Guyana war, wie französische Medien berichteten. Sie dauerte drei Tage. Dann zogen die Meeressäuger ab, die Crew war in Sicherheit.

Grindwal

Die auch als Pilotwale bekannten Grindwale sind nach dem Orca mit etwa 7 m Länge die zweitgrößten ozeanischen Delfine. © Wayne Hoggard/NOAA

Im Gegensatz zu den Angriffen der Orcas rammten die Grindwale das Segelboot hier jedoch direkt. Immer wieder warfen die mächtigen Meeressäuger ihren Körper gegen den Rumpf, bespritzten die vierköpfige Crew. Diese versuchte vergeblich, die Tiere u. a. mit Musik zu vertreiben.

Am Ende hatte der Sperrholzrumpf des Bootes einen 30 cm langen Riss. Zum Glück gelang es der Crew, das Leck abzudichten. Erst nach drei Tagen ließen die Tiere ab und zogen weiter.

Zufällig befanden sich drei Umweltwissenschaftler an Bord. Eine ihrer Vermutungen: Das aggressive Verhalten könnte auf die intensive industrielle Fischerei vor der afrikanischen Atlantikküste zurückgehen. Der Lebensraum dieser Delfinart überschneidet sich mit dem FAO-Fanggebiet 34 (Mittlerer Ostatlantik). Hier werden vor allem hochpreisige Arten wie Roter Thunfisch, Echter Bonito, Gelbflossenthunfische, aber auch Sardellen (Anchovis) gefischt.

Wale und Delfine: Verhaltenstipps

Update: erweiterter und überarbeiteter Beitrag. Mit neuem Datum wieder veröffentlicht (Erstveröffentlichung 8/2021).

Titelbild: Das am 1. November 2022 von Orcas beschädigte Boot ist leckgeschlagen und ging unter. © Portuguese Maritime Authority/Autoridade Maritima Nacional


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