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Seehundjäger (Schleswig-Holstein) und Wattenjagdaufseher (Niedersachsen) nennen sich gern „Seehundmanager“. Sie jagen keine Seehunde. Das ist streng verboten. Dennoch erschießen sie jedes Jahr Hunderte kranke, verletzte oder verlassene, meist junge, Robben. Sie dürfen das. Die meisten Tiere sterben an der deutschen Nordseeküste und auf den Nordseeinseln. Das versteht man bei den zuständigen Behörden unter Robben-Management. Angeblich will man Wildtieren „unnötige Leiden“ ersparen. Doch ob ein Tier getötet werden muss, entscheiden sie situativ. Ohne weitere Nachfrage. Dabei ist Ihre Qualifikation zweifelhaft. Seehundjäger sind lediglich Hobbyjäger, die regelmäßige Fortbildungen erhalten.
Meeressäuger-Management in Jägerhand?
In Deutschland sind ausschließlich „die vom Land bestellten Jagdaufseher“ – also Seehundjäger und Wattenjagdaufseher – befugt, sich um gestrandete, verletzte, verlassene und kranke Meeressäuger zu „kümmern“. Hat eine Robbe Glück, dann endet dieses „kümmern“ nicht mit ihrem Tod. Dann entscheidet sich ihr Schicksal in einer der „offiziellen“ Auffangstationen.
Was macht ein Seehundjäger?
In Begleitung eines Seehundjägers konnten Jäger noch bis Ende der 1970er-Jahre für 180 D-Mark legal einen Seehund schießen. Das ist heute streng verboten. 1974 wurde die Jagd auf sie endlich eingestellt. Denn die kulleräugigen Unterwasserjäger standen an deutschen Küsten bereits kurz vor der Ausrottung. Unglücklicherweise verblieb die u. a. nach EU-FFH-Richtlinie geschützte Art in Deutschland jedoch im Jagdrecht (mit ganzjähriger Schonzeit). Damit gehört der Seehund weiter zu den jagdbaren Tierarten.
Im Gegensatz dazu unterliegen Kegelrobben nicht dem Jagdrecht. Zuständig für das Management beider Arten und darüber hinaus sämtlicher Meeressäuger sind in Deutschland jedoch ausschließlich Seehundjäger oder sogenannte Wattenjagdaufseher. Das gilt auch im Nationalpark Wattenmeer. Das ist fragwürdig und nicht mehr zeitgemäß.
„Zuständig“ heißt demnach auch, eine Entscheidung über Leben und Tod zu treffen. Letzteres vollziehen sie mit einem Pistolenschuss in den Hinterkopf des Tieres. Ansonsten gehören zu ihren Aufgaben das Bergen toter Meeressäuger, Kontrollfahrten sowie Informations- und Aufklärungsarbeit.
Wer sind Seehundjäger?
Seehundjäger sind ehrenamtlich tätig. Sie müssen sich regelmäßig bei Schulungen des Instituts für Terrestrische und Aquatische Wildtierforschung (ITAW) der Stiftung Tierärztliche Hochschule Hannover fortbilden. Im „echten“ Leben haben sie ganz normale Jobs als Hotelier, Restaurantbesitzer oder Vermieter von Ferienwohnungen. In Niedersachsen nennen sie sich Wattenjagdaufseher.
Die Fortbildungen erschöpfen sich allerdings in mehreren, knapp fünfstündigen Veranstaltungen. Hierbei stehen dann Vorträge zu Themen wie „Umgang mit der Öffentlichkeit“ oder zum „Einpacken von Kadavern“ auf der Tagesordnung. Derart „geschult“ beurteilen diese Hobbyjäger als vom Land bestellte Jagdaufseher dann – wie Veterinärmediziner – den Gesundheitszustand von Wildtieren. Das ist absurd.
Die Entscheidung der Seehundjäger
Die Entscheidung, ein Tier zu töten, trägt in sich eine hohe moralische Verantwortung, Respekt vor dem Leben und veterinärmedizinischen Sachverstand.

Es liegt in der Natur der Sache, dass Jägern Todesurteile leichter von der Hand gehen. Kein Wunder, dass die Tätigkeit der Seehundjäger ständiger Konfliktherd ist – nicht nur wegen der heutzutage unpassenden Bezeichnung.
Da auf Sylt besonders viele verletzte, kranke oder verlassene Robbenwelpen erschossen werden (müssen?), kam die Insel bereits in den zweifelhaften Ruf eines Friedhofs der Kuscheltiere.
Was verdient ein Seehundjäger?
Das Land Schleswig-Holstein zahlt für jeden Einsatz eine Pauschale von 45,00 € – auch für das Erschießen eines Tieres. 2018 erschossen die 40 ehrenamtlichen Jagdaufseher aus Schleswig-Holstein 658 Robben. Den schleswig-holsteinischen Steuerzahler kostete das 29.610,00 €. 2019 wurden an der Küste von Schleswig-Holstein mindestens 690 kleine Robben erschossen (Angabe eines Seehundjägers von Sylt vom Februar 2020).
Ein monetäres Interesse kann dabei nicht von der Hand gewiesen werden. So hatte ein Sylter Seehundjäger nach eigenen Angaben 2016 rund 1.000 Einsätze. Für die rund 3.000 Einsätze in Schleswig-Holstein 2019 zahlte das Land ca. 135.000 € an Aufwandsentschädigungen.
Laut Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein (MELUND) gab es 2020 rund 2.300 Seehundjäger-Einsätze. Dabei starben 441 Tiere per Kopfschuss. Etwa 1.600 sollen bereits tot gewesen sein. 70 Tieren fehlte angeblich nichts. In einer Seehundstation landeten 188 Robben.
Warum gibt es heute noch Seehundjäger?
Seit vielen Jahrzehnten verhindert, die gut organisierte und politisch bestens vernetzte Jagdlobby, dass Seehunde aus dem Jagdrecht gestrichen und Privilegien für Jäger eingeschränkt werden.
Prominentester Vertreter dieser Interessengruppe ist der ehemalige Bundestagsabgeordnete und Ministerpräsident von Schleswig-Holstein (2005 bis 2012) Peter Harry Carstensen (CDU). Der gebürtige Nordstränder bekennt sich seit frühester Jugend als leidenschaftlicher Jäger.
Auch der ehemalige Umweltminister von Schleswig-Holstein und heutige Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz im Kabinett Scholz, Robert Habeck, wollte dieses politisch heiße Eisen nicht anfassen.
„Wir haben die Pflicht, den Seehunden gute Lebensbedingungen zu schaffen. Aber genauso haben wir die Pflicht, todkranken Tieren unnötige Leiden zu ersparen. Keinem Seehundjäger fällt es dabei leicht, Seehunde zu töten, denn sie lieben diese Tiere und engagieren sich ehrenamtlich und mit großem Einsatz für sie. Aber es gehört auch zu ihrer Verantwortung, die kränksten Seehunde von ihren Leiden zu erlösen“.
Robert Habeck in einer Presseerklärung seines Ministeriums (Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein – MELUND) im Februar 2014.
Wir schützen unsere Seehundjäger …
An der Haltung von Habeck hat sich bis heute nicht viel geändert. So soll eine Referatsleiterin des für das Management von Meeressäugern in Schleswig-Holstein zuständigen Ministeriums (MELUND) die aktuelle Einstellung des von Jan Philipp Albrecht (Bündnis 90/Die Grünen) geführten Hauses folgendermaßen umrissen haben: „Wir schützen unsere Jäger. Es geht nicht um die Seehunde, es geht um unsere Jäger. Wir werden uns immer hinter sie stellen“.
Fachleute unerwünscht
Aufgrund einer nicht mehr zeitgemäßen Gesetzeslage und des Einflusses der organisierten Jägerschaft auf Belange des Tier- und Naturschutzes, entzieht man selbst Tierärzten weitestgehend die Kompetenz zur Hilfeleistung in Notfällen.
„Tierärzte dürfen einem Seehund nur dann selbst helfen, wenn ihr tierärztliches Eingreifen umgehend erforderlich ist, sie sind jedoch verpflichtet, umgehend einen Seehundjäger zu benachrichtigen. Aufgrund der spezifischen Anforderungen der Seehunde an Ernährung, Pflege und Betreuung, die dem Ziel der Gesundung und Wiederauswilderung gerecht werden müssen, ist eine länger anhaltende sachgerechte Pflege der Seehunde durch Tierärzte nicht möglich. Deshalb müssen aufgefundene Tiere innerhalb von 24 Stunden an den Seehundjäger oder die Seehundstation Friedrichskoog abgegeben werden. Im Ausnahmefall kann die 24h-Frist überschritten werden, wenn ein Tier noch nicht transportfähig ist“.
Antwort der Landesregierung – Minister für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Patrick Breyer (PIRATEN) – SCHLESWIG-HOLSTEINISCHER LANDTAG Drucksache 18/5449 18. Wahlperiode 2017-06-01
Feuer frei in Herbst und Winter
Wie wenig professionell oder der individuellen Situation betroffener Tiere gerecht werdend das Meeressäugermanagement beim MELUND ausgerichtet ist, zeigt auch die Aussage:
„Junge Seehunde, die im August ein Gewicht von weniger als 10 kg oder eine Länge von unter 50 cm aufweisen, sind als Kümmerer einzustufen. Daraus ergibt sich, dass Tier nicht mehr in die Seehundstation eingeliefert werden sollen, sondern als überlebensfähig eingestuft werden bzw. notgetötet werden“.
Ministerium für Energiewende, Landwirtschaft, Umwelt, Natur und Digitalisierung des Landes Schleswig-Holstein – MELUND
Folglich verzeichneten Robbenschützer im Herbst und Winter 2021/2022 im Bereich der nordfriesischen Inseln ungewöhnlich viele erschossene junge Robben.

Ginge es ohne Seehundjäger besser?
Seehundjäger oder Wattenjagdaufseher sind der Dreh- und Angelpunkt im Management der deutschen Robbenpopulationen. Doch ist das noch zeitgemäß?
Sicherlich leisten viele von ihnen auch einen Beitrag zum Meeressäuger-Management an deutschen Küsten. Und niemand will, dass ein Lebewesen, wenn es unheilbar, krank oder schwer verletzt ist, unnötig weiter leidet. Doch es werden entschieden zu viele Tiere erschossen. Andererseits werden zu viele Tiere einfach ihrem Schicksal überlassen. Damit „Natur Natur sein kann“. Mit professionellem Meeressäuger-Management hat das wenig gemein.
Unverständlich bleibt, warum das Robben-Management in Deutschland oberflächlich geschulten Amateuren vorbehalten ist. Andere Länder sind da um einiges besser aufgestellt. Es ist ein Politikum und hängt wohl auch mit dem Gewohnheitsrecht der friesischen Seehundjagd zusammen. Besser wäre eine professionelle „Robben Task Force“, der z. B. auch Ranger, Veterinäre oder Wildtierbiologen angehören.
Angesichts der hohen Zahl jährlich an deutschen Küsten von Seehundjägern und Wattenjagdaufsehern erschossener Robben bekommt die MELUND-Verlautbarung von der Etablierung eines „umfassenden Systems, das insbesondere den Umgang mit kranken und verletzten Tieren sowie deren Rehabilitierung regelt“, einen seltsamen Beigeschmack. Das deutsche Robben-Management ist weder ethisch noch faktisch auf der Höhe der Zeit.
Es ist ein moralischer Imperativ, zumindest zu versuchen, in Not geratenen Wildtieren zu helfen. Es ist unsere Verantwortung. Die finale Entscheidung – der Tod des Tieres – sollte dabei Fachleuten und nicht Hobbyjägern vorbehalten sein.
Systemversagen Seehundjäger: Solitärdelfin in der Ostsee
Wie unprofessionell das System aus Seehundjägern und Wattenjagdaufsehern mitunter agiert, zeigen außergewöhnliche Vorkommnisse mit Meeressäugern. Darauf ist man weder vorbereitet noch weiß, damit umzugehen.

Der Eckernförder Delfin Sandy (Gemeiner Delfin) wurde keine 6 Jahre alt. Foto: © Kai Müsebeck
Beispiel hierfür ist der tragische Tod des Einzelgängerdelfins „Sandy“ in der Ostsee. Ostern 2020 tauchte der etwa sechs Jahre alte, noch nicht geschlechtsreife weibliche Gemeine Delfin in der Eckernförder Bucht auf. Dabei entwickelte er eine starke Objektfixierung auf eine etwa 100 bis 150 Meter vor dem Hemmelmarker Strand schwimmenden Markierungsboje.
Mit der Zeit begann der an multiplen Hautkrankheiten leidende Delfin, Menschen als Sozialkontakte zu akzeptieren und sogar zu suchen. Dabei schwamm er auch auf sie zu und ließ sich streicheln. Schnell entstand ein ungeregelter Massentourismus. Appelle von besorgten Bürgerinnen und Bürgern oder Meeresschutzorganisationen, Schutzmaßnahmen zu etablieren, verhallten. Der zuständige Seehundjäger blieb rat-, taten- und kompetenzlos. Ende Januar 2021 starb der schwer kranke Delfin.
Petition
„Tierärzten muss es erlaubt sein, verletzte und kranke Robben zu retten!“ auf change.org, gestartet von der Schauspielerin Janina Fautz und Janine Bahr-van Gemmert (Tierärztin im Robbenzentrum Föhr)
JETZT ABSTIMMEN!Titelfoto: Seehundjäger mit einem jungen Seehund am Strand von St. Peter-Ording. © U.Karlowski
Weiterführende Informationen
- Immer mehr tote Robben in der Nordsee
- Deutlich weniger Seehunde im Wattenmeer
- Was machen Seehunde in Flüssen?
- Fragen und Antworten zum Thema Seehunde, Bestand und Management in Schleswig-Holstein
- Seehundberichte – Schleswig-Holstein
- Richtlinie zur Behandlung von erkrankt, geschwächt oder verlassen aufgefundenen Robben
- Meerestiere retten
- Robbenzentrum in Wyk auf Föhr
- Die Robben-Retterin – Frankfurter Rundschau, 03.06.2022